Schattenhaft - der dunkle Spiegel in mir
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Schattenhaft - der dunkle Spiegel in mir
Hab mich mal an was heran gewagt...
Genre: Fantasy/ Vampire & Dämonen
Disclaimer: Die Figuren sind frei erfunden und auch die Wesen sind Teilweise selbst von mir "kreiert".
Ich hoffe auf viel Kritik und natürlich in erster Linie jemanden, der es ließt...
Genre: Fantasy/ Vampire & Dämonen
Disclaimer: Die Figuren sind frei erfunden und auch die Wesen sind Teilweise selbst von mir "kreiert".
Ich hoffe auf viel Kritik und natürlich in erster Linie jemanden, der es ließt...
Gast- Gast
Re: Schattenhaft - der dunkle Spiegel in mir
Prolog
Schatten des Todes
Vor dem Fenster herrschte nur wenig Betrieb, kaum Autos waren zu dieser späten Stunde auf den Straßen unterwegs. Die Scheiben waren an den Rändern mit einer feinen Eisschicht überdeckt, die das Licht der vorbeihuschenden Scheinwerfer reflektierte. Ansonsten lag alles völlig im Dunkeln. Die Straßenlaternen warfen nur spärliches Licht auf die düsteren Gassen, doch kein einziger Strahl ihres kalten Lichts erreichte das Fenster an dem ich in dieser trostlosen Nacht stand. Ich nahm nur schemenhaft war, was sich draußen auf der Straße befand. Gerade noch konnte ich die gegenüberliegende Hauswand sehen, die unter den Jahrzehnten in sich zusammen gesunken war. Draußen vielen bereits die ersten Regentropfen des nahenden Herbstgewitters vom Himmel und machten das Bild der verlassenen Straßen unwirklich und kalt. Ich stützte meine Hände auf den schmalen Fenstersims, der unter meinen Fingern zu bröckeln begann. Wie alt dieses Haus wohl sein mochte? Mein Blick viel über mir auf das morsche Dachgebälk und ich bemerkte, wie eisige Regentropfen durch die Ritzen sickerten. Gänsehaut überzog meine Arme und ein kalter Windhauch schlich sich unter meine dünnen Kleider. Ein frostiger Schauer jagte mir über den Rücken.
Plötzlich schwang die schmale Tür hinter mir mit einem lauten Quietschen auf. Erschrocken wirbelte ich herum und starrte in den halbdunklen Schatten, der den hinteren Teil des Raumes umhüllte. Ich kniff die Augen zusammen. Mein Blick suchte unablässig in der Schwärze, bis ich etwas Weißes sah. Ich stieß die Luft zischend aus und ging in die Dunkelheit hinein, auch wenn es mir widerstrebte.
Als ich in der Schwärze stand erkannte ich den Geruch. Ich atmete erleichtert auf.
„Sayeron“, flüsterte ich sanft und ging in die Hocke. Nichts geschah. Ich wartete noch ein paar Sekunden, dann richtete ich mich wieder auf. Ich suchte mit schnellem Blick den Raum ab und entdeckte einen weißen Schatten genau da wo ich die Tür vermutete. Langsam ging ich auf die Silhouetten zu und als ich nur noch wenige Schritte vom Rahmen der aus den Angeln gerissenen Tür entfernt war erkannt ich was das Weiße war. Es war tatsächlich das kleine Frettchen, meine Seele...
Doch was war das Schwarze, das sich da in seinem Fell ausbreitete. Es schien wie ein sich langsam verdichtender Schatten über seinen Körper zu kriechen. Ich fiel neben Sayeron auf die Knie und strich ihm über das Fell. Sein Körper war eiskalt. Das Frettchen hob den Kopf um mir in die Augen zu sehen. Seine eisblaue Iris war nur mehr von wenigen Lebensfunken umrandet und seine ganze Ausstrahlung war von einem dichten Schleier umgeben, sodass ich seinen Geist nur mehr schwach erspüren konnte. Ein mattes Lächeln zog sich über Sayerons Lefzen, doch es versagte gleich wieder.
„Mieron“, sprach er mich direkt an, seine sonst so glasklare Stimme war brüchig und wurde mit jedem Buchstaben schwächer.
Ich sah ihn mit durchdringendem Blick an und fragte: „Was ist passiert?“ Meine Stimme klang in meinen eigenen Ohren seltsam erstickt und ratlos.
Sayerons Blick zuckte zu seiner Flanke auf der sich der schwarze Schatten ausbreitete. Die Miene des weißen Frettchens wurde schmerzerfüllt, als er mir wieder direkt in die Augen sah.
„Ich war...“, seine Worte wurden zu leise, als dass ich sie hätte verstehen können.
Auch meine Seite wurde von einem kalten Schmerz durchzuckt, der sich jedoch zugleich wie ein tobendes Feuer anfühlte…
Ich schob meine Hand vorsichtig unter seinen Körper, zog sie jedoch sofort wieder zurück, als mich erneut ein heißer Schmerz durchfuhr. Ich sah auf meine Handfläche herab über die sich nun rötliche Brandwunden zogen. Ich wollte etwas sagen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken.
Sayeron ließ den Kopf wieder auf die Pfoten sinken und schloss die Augen.
„Mieron...“, flüsterte er, so leise wie das Säuseln des Windes, und ich wusste nicht, ob ich mir das nicht nur eingebildet hatte.
Die Lider des Frettchens flackerten, als er seinen Blick wieder auf mich richten wollte. Ich bis die Zähne zusammen und nahm Sayeron in die Arme. Mein Körper wurde taub vor Schmerz, doch das war mir in diesem Moment egal. Ich starrte mit verschleiertem Blick auf meinen Seelenträger.
Die Schwärze breitete sich immer weiter in dem Fell des Frettchens aus und erreichte schließlich sein Herz. Plötzlich schlug Sayeron die Augen wieder auf und sah mich mit entschuldigendem Blick an.
Mit bröckelnder Stimme sagte er: „Vergiss mich nicht...und...versuche...“
Sein Kopf kippte zur Seite und er blieb reglos in meinem Arm liegen. Die Schwärze breitete sich weiter über den toten Körper aus.
Ich wollte weinen, doch in meinem Inneren herrschte kalte Gefühllosigkeit. Ich wollte Sayeron an mich drücken, doch meine Arme gehorchten mir in diesem Moment nicht. Ich wollte versuchen meinen Seelenträger wieder ins Licht des Lebens zurück zu rufen, doch ich konnte keinen einzigen Muskel bewegen. Ich war in einer dunklen Kälte gefangen, die mich aus meinem Körper zu reißen schien, meine Seele hatte mich ja bereits verlassen, sie lag tot in meinen Armen.
Die Schatten krochen jetzt auch auf meinen Handrücken, sie lähmten alles, so wie das Gefühl der Einsamkeit meinen Herzschlag zu verlangsamen schien. Mein Blick war immer noch auf das ausdruckslose Gesicht des Frettchens gerichtet, auf dessen Zügen nun die dunklen Schatten lagen.
Kälte. Einsamkeit. Trostlosigkeit. Aussichtslosigkeit.
Immer mehr Gefühle strömten auf mich ein, bis mir schließlich Tränen die Sicht verschleierten. Einzelne Tropfen kullerten mir über die Wangen. Alles war vorbei, schien zu Ende zu sein. Ich drückte Sayerons leblosen Körper an mich und vergrub das Gesicht in seinem erkalteten Fell. Dunkelheit umfing mich, Schwärze und der Atem des Todes. Meine Seele hatte mich verlassen, für immer.
Schatten des Todes
Vor dem Fenster herrschte nur wenig Betrieb, kaum Autos waren zu dieser späten Stunde auf den Straßen unterwegs. Die Scheiben waren an den Rändern mit einer feinen Eisschicht überdeckt, die das Licht der vorbeihuschenden Scheinwerfer reflektierte. Ansonsten lag alles völlig im Dunkeln. Die Straßenlaternen warfen nur spärliches Licht auf die düsteren Gassen, doch kein einziger Strahl ihres kalten Lichts erreichte das Fenster an dem ich in dieser trostlosen Nacht stand. Ich nahm nur schemenhaft war, was sich draußen auf der Straße befand. Gerade noch konnte ich die gegenüberliegende Hauswand sehen, die unter den Jahrzehnten in sich zusammen gesunken war. Draußen vielen bereits die ersten Regentropfen des nahenden Herbstgewitters vom Himmel und machten das Bild der verlassenen Straßen unwirklich und kalt. Ich stützte meine Hände auf den schmalen Fenstersims, der unter meinen Fingern zu bröckeln begann. Wie alt dieses Haus wohl sein mochte? Mein Blick viel über mir auf das morsche Dachgebälk und ich bemerkte, wie eisige Regentropfen durch die Ritzen sickerten. Gänsehaut überzog meine Arme und ein kalter Windhauch schlich sich unter meine dünnen Kleider. Ein frostiger Schauer jagte mir über den Rücken.
Plötzlich schwang die schmale Tür hinter mir mit einem lauten Quietschen auf. Erschrocken wirbelte ich herum und starrte in den halbdunklen Schatten, der den hinteren Teil des Raumes umhüllte. Ich kniff die Augen zusammen. Mein Blick suchte unablässig in der Schwärze, bis ich etwas Weißes sah. Ich stieß die Luft zischend aus und ging in die Dunkelheit hinein, auch wenn es mir widerstrebte.
Als ich in der Schwärze stand erkannte ich den Geruch. Ich atmete erleichtert auf.
„Sayeron“, flüsterte ich sanft und ging in die Hocke. Nichts geschah. Ich wartete noch ein paar Sekunden, dann richtete ich mich wieder auf. Ich suchte mit schnellem Blick den Raum ab und entdeckte einen weißen Schatten genau da wo ich die Tür vermutete. Langsam ging ich auf die Silhouetten zu und als ich nur noch wenige Schritte vom Rahmen der aus den Angeln gerissenen Tür entfernt war erkannt ich was das Weiße war. Es war tatsächlich das kleine Frettchen, meine Seele...
Doch was war das Schwarze, das sich da in seinem Fell ausbreitete. Es schien wie ein sich langsam verdichtender Schatten über seinen Körper zu kriechen. Ich fiel neben Sayeron auf die Knie und strich ihm über das Fell. Sein Körper war eiskalt. Das Frettchen hob den Kopf um mir in die Augen zu sehen. Seine eisblaue Iris war nur mehr von wenigen Lebensfunken umrandet und seine ganze Ausstrahlung war von einem dichten Schleier umgeben, sodass ich seinen Geist nur mehr schwach erspüren konnte. Ein mattes Lächeln zog sich über Sayerons Lefzen, doch es versagte gleich wieder.
„Mieron“, sprach er mich direkt an, seine sonst so glasklare Stimme war brüchig und wurde mit jedem Buchstaben schwächer.
Ich sah ihn mit durchdringendem Blick an und fragte: „Was ist passiert?“ Meine Stimme klang in meinen eigenen Ohren seltsam erstickt und ratlos.
Sayerons Blick zuckte zu seiner Flanke auf der sich der schwarze Schatten ausbreitete. Die Miene des weißen Frettchens wurde schmerzerfüllt, als er mir wieder direkt in die Augen sah.
„Ich war...“, seine Worte wurden zu leise, als dass ich sie hätte verstehen können.
Auch meine Seite wurde von einem kalten Schmerz durchzuckt, der sich jedoch zugleich wie ein tobendes Feuer anfühlte…
Ich schob meine Hand vorsichtig unter seinen Körper, zog sie jedoch sofort wieder zurück, als mich erneut ein heißer Schmerz durchfuhr. Ich sah auf meine Handfläche herab über die sich nun rötliche Brandwunden zogen. Ich wollte etwas sagen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken.
Sayeron ließ den Kopf wieder auf die Pfoten sinken und schloss die Augen.
„Mieron...“, flüsterte er, so leise wie das Säuseln des Windes, und ich wusste nicht, ob ich mir das nicht nur eingebildet hatte.
Die Lider des Frettchens flackerten, als er seinen Blick wieder auf mich richten wollte. Ich bis die Zähne zusammen und nahm Sayeron in die Arme. Mein Körper wurde taub vor Schmerz, doch das war mir in diesem Moment egal. Ich starrte mit verschleiertem Blick auf meinen Seelenträger.
Die Schwärze breitete sich immer weiter in dem Fell des Frettchens aus und erreichte schließlich sein Herz. Plötzlich schlug Sayeron die Augen wieder auf und sah mich mit entschuldigendem Blick an.
Mit bröckelnder Stimme sagte er: „Vergiss mich nicht...und...versuche...“
Sein Kopf kippte zur Seite und er blieb reglos in meinem Arm liegen. Die Schwärze breitete sich weiter über den toten Körper aus.
Ich wollte weinen, doch in meinem Inneren herrschte kalte Gefühllosigkeit. Ich wollte Sayeron an mich drücken, doch meine Arme gehorchten mir in diesem Moment nicht. Ich wollte versuchen meinen Seelenträger wieder ins Licht des Lebens zurück zu rufen, doch ich konnte keinen einzigen Muskel bewegen. Ich war in einer dunklen Kälte gefangen, die mich aus meinem Körper zu reißen schien, meine Seele hatte mich ja bereits verlassen, sie lag tot in meinen Armen.
Die Schatten krochen jetzt auch auf meinen Handrücken, sie lähmten alles, so wie das Gefühl der Einsamkeit meinen Herzschlag zu verlangsamen schien. Mein Blick war immer noch auf das ausdruckslose Gesicht des Frettchens gerichtet, auf dessen Zügen nun die dunklen Schatten lagen.
Kälte. Einsamkeit. Trostlosigkeit. Aussichtslosigkeit.
Immer mehr Gefühle strömten auf mich ein, bis mir schließlich Tränen die Sicht verschleierten. Einzelne Tropfen kullerten mir über die Wangen. Alles war vorbei, schien zu Ende zu sein. Ich drückte Sayerons leblosen Körper an mich und vergrub das Gesicht in seinem erkalteten Fell. Dunkelheit umfing mich, Schwärze und der Atem des Todes. Meine Seele hatte mich verlassen, für immer.
Gast- Gast
Re: Schattenhaft - der dunkle Spiegel in mir
(Kurze Zwischeninfo: Ich Teile die Kapitel in "Tage" und "Nächte" ein, was aber nichts mit der Tageszeit zu tun hat, sondern damit, dass ich aus der Sicht von 2 Personen schreibe, die sich abwechseln...)
1.Nacht
Gebrochen
Sanft vielen einige Schneeflocken auf den gefrorenen Fluss, der sich unter der schmalen Brücke hindurch schlängelte. Auch der steinerne Boden unter meinen Füßen war bereits mit einer feinen Schicht weißer Kristalle überzogen, die sich dicht an dicht drängten um eine dünne, farblose Decke über dem Land zu bilden, die alles in einem unwirklichem Licht erscheinen ließ.
Der Schnee reflektierte das blasse Winterlicht der Sonne und ließ die weißen Flocken glitzern. Das Pulver unter meinen Füßen knirschte, als ich mich weiter vorbeugte um mich an dem Brückengeländer abzustützen. Der Schnee, der nach meiner Erinnerung kalt sein müsste, fühlte sich auf meiner Haut seltsam warm an und eher wie ein weiches Federbett als eine Schicht aus tausenden von Eiskristallen. Wenn die Brücke nicht unter einer Schneedecke lag, dann war ich Boden wohl aus grauem Stein, der unregelmäßig aneinander gereiht war. Diese Willkür zeugte von dem Alter der Brücke, denn in der heutigen, perfektionistischen Welt, war jeder Millimeter immer genauestens geplant…
Genau diese Eigenschaft war es, die die Brücke so schön machte, sie harmonierte noch mit dem Wald, der ihren Fuß auf der linken Seite umrandete und sich noch weit gen Norden erstreckte.
Auch das Geländer war aus demselben mausgrauen Stein und war an der Oberkante mit einem schlichten Stuck aus Zinn besetzt, von dem die schwarze Farbe bereits abblätterte.
Ich hob meinen Blick von der Geländerumrahmung und sah in Richtung Stadt.
Durch das immer dichter werdende Schneetreiben konnte ich nur die Silhouetten der vordersten Häuser erkennen und auch diese hoben sich nur als schwarze Schemen von dem weißen Horizont ab. In einiger Entfernung zu der Stadt und in unüberbrückbarem Abstand zu mir stand eine Person, mein Bruder. Er stand wie ich in Richtung der Häuser gewandt und vermied es zu mir zu sehen.
Den ganzen Tag war ich derjenige gewesen, der auf Abstand gegangen war, doch jetzt ging diese Schlucht zwischen uns nicht von mir sondern von meinem Bruder aus.
Auch wenn ich gewusst hatte, dass wir nie wieder so sorglos miteinander umgehen konnten hatte ich tief in meinem Innersten gehofft, dass er über diesen dunklen Aspekt meiner Existenz hinwegsehen könnte. Aber was erwartete ich mir eigentlich? Ich hätte ja auch nicht anders reagiert, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre. Doch das war ich nicht, ich war ich…ich war das Monster von uns beiden…
Ich hörte ein Rascheln in den Bäumen, mein Gehirn aktivierte automatisch meine Jagdinstinkte und ich duckte mich in lauernder Haltung. Ein Schatten löste sich aus den Bäumen. Es war Aylea. Die graue Katta sprang auf das Brückengeländer und ging, in gebührendem Abstand zu mir, über das Geländer zu meinem Bruder hinüber. Sie hatte ihren dunkelgrau - weiß gestreiften Schwanz stolz aufgestellt und reckte ihre gräuliche Schnauze dominant in die Luft. Ihre gelblichen Augen blitzten wachsam in meine Richtung und sie wandte den Blick keinen Moment von mir ab, immer bereit zur Gegenwehr. Die Kattadame war vom Wesen her so anders als mein Bruder, das man auf den ersten Blick nicht glauben konnte, dass sie zusammengehörten, doch wenn man genauer hinsah, konnte man auch ihre gemeinsamen Seiten wahrnehmen. Auch Sayeron und ich waren so grundverschieden…gewesen.
Schnell richtete ich den Blick wieder auf den vereisten Bach, als ich merkte wie mir Tränen in die Augenwinkel stiegen. Ärgerlich blinzelte ich den Schleier weg und hätte beinahe laut auf geknurrt.
Als ich meine Fassung wiedergefunden hatte drehte ich mich um und lehnte mich rücklings an das Geländer. Wieder viel mir auf, dass der Schnee seltsam warm, ja beinahe heiß war…
Aylea war bereits bei meinem Bruder angekommen und ich sah sie wie ein Schatten auf seine Schulter springen.
Er blickte immer noch in Richtung Stadt. Irgendwann mussten wir wieder miteinander sprechen, wir konnten doch nicht wegen…mir…auseinander brechen.
Es war doch nicht meine Schuld…oder doch?
Ich schüttelte den Kopf. Es war dumm jetzt darüber nachzudenken. Es war wie es war und daran konnte ich nichts ändern. Ich löste den Blick von der Silhouette meines Bruders und starrte in den verschneiten Wald. Einer der Bäume, die den äußersten Rand bildeten hatte den gestrigen Sturm nicht heil überstanden, er war in der Mitte durchgebrochen, wie ein Zahnstocher. Die Bruchstelle war ausgefranzt und überall um die Wunde herum haftete Harz.
Der Baum war wohl einmal eine Buche gewesen, doch jetzt lagen die blattlosen Äste, abgetrennt von ihrer Verbindung zum Erdreich am Boden und der Baum würde vermutlich vollkommen in sich zusammenbrechen, bevor der Schnee geschmolzen war. Oder die Menschen würden kommen um das morsch werdende Holz abzuhacken, damit sie es, bevor es vollends verfiel, noch als Brennmaterial benutzen konnten. Sie wussten ja gar nicht, dass wenn sie dem Baum nur lange genug Zeit gaben, sich wieder Leben auf der kalten Rinde bilden würde. In Form von überwuchernden Pflanzen, Moos und Flächten, aber man gab ihm ja gar nicht die Zeit dazu…
Mittlerweile verglich ich in Gedanken den toten Baum mit mir. Doch da gab es gravierende Unterschiede. Ich war tot, ebenfalls in der Mitte gebrochen…aber in mir hatte sich ein Parasit eingenistet, der kein neues Leben in meiner Hülle zuließ. Trotzdem wurde ich immer viel zu schnell abgeschrieben, es gab doch noch Hoffnung…die gab es doch noch?
Ich schüttelte die Gedanken ärgerlich ab und starrte in eine andere Richtung. Konnte ich nicht einmal Ruhe vor diesen Überlegungen haben? Mein Bruder hatte im Übrigen vollkommen Recht damit, dass er sich und Aylea von mir fern hielt, ich war einfach zu gefährlich für ihn…
Meine Gedanken kreisten in einem so rasenden Tempo, dass mir beinahe schwarz vor Augen geworden wäre. Dunkle Flecken tanzten bereits durch meine Wahrnehmung und ich musste mehrmals die Augen zusammenkneifen um das Schwindelgefühl wieder zu vertreiben.
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich mich fester am Brückengeländer verkrallt hatte, doch plötzlich brach es zwischen meinen Fingern. Das Bröckeln der Steine hörte sich in meinem Ohren laut an und dröhnte hinter meinen Schläfen noch langen nach dem es eigentlich schon verklungen war. Ich drehte mich um und sah, dass ich bis über die Hälfte des Geländersimses abgerissen hatte. Ungläubig starrte ich auf die Bruchfläche, die mit weißlichem Steinpulver überzogen war, das bei dem sanften Wind, der im Moment über das Land fegte, aufgewirbelt wurde und für kurze Zeit wie ein undurchdringbarer Nebelschleier in der Luft hing, dann verflog es.
Man sah genau wo ich mich an dem Geländer festgekrallt hatte, dort waren lange kratzerartige Spuren in den Stein geritzt. Außerdem war der Zinnstuck in der Mitte auseinander gebrochen und stand nun verbogen von der Mauer ab.
Ich war so in mein Erstaunen vertieft, dass ich erschrocken herumwirbelte als ich den Schnee direkt neben mir Knirschen hörte. Ich bleckte angriffsbereit die Zähne und duckte mich lauernd. Mein Blick viel aber sobald ich mich umgedreht hatte auf meinen Bruder, der direkt neben mir stand und meine Haltung entspannte sich ein wenig. Trotzdem zuckte mein Blick immer wieder wachsam nach links und rechts. Mein Gehirn hatte Adrenalin durch meinen Körper gejagt und jetzt stand ich wie unter Strom. Meine Wahrnehmung bekam einen seltsam blassen Stich und die Duftspuren, die hier vorbei führten sprangen mir in allen möglichen Farbvariationen in die Augen, da sie sich wie Lichter von der sonst fast grauen Umgebung abhoben. Ich erkannte die Farben, die zu dieser Jahreszeit sowieso nur dürftig vertreten waren nun nur noch verschwommen. Ich blinzelte zweimal, doch die seltsame Wahrnehmung wollte nicht verschwinden. Noch einmal kniff ich die Augen zusammen, gab es aber schließlich auf und blickte wieder zu meinem Bruder, der mich besorgt musterte.
Seine dunkelblonden Haare hingen ihm in lagen Strähnen in die Stirn und seine Frisur sah ein Bisschen aus wie ein nasser Hund. Unter seinen grünlich – blauen Augen, die wie klare Seen bei Sonnenlicht wirkten, hatten sich dunkle Ringe gebildet, die von der Anstrengung zeugten, die er in den letzten Tagen zu bewältigen gehabt hatte. Außerdem war sein Gesicht von der Müdigkeit eingefallen und es hatten sich Schatten unter Augen und in den Mundwinkeln eingeschlichen, die in letzter Zeit viel zu häufig nach unten zeigten. Sein markantes Kinn war leicht kantig und hatte in den letzten Monaten jede Kindlichkeit verloren. Eine stolze Körperhaltung zeugte von Erfahrung und Selbstbewusstsein. Er hatte breite Schultern und seine Haut hatte einen rostbraunen Farbton, der nicht so recht in diese sonst so farblose Stadt passte, in der ausnahmslos alles Grau in Grau war. Seine Augen waren leicht schrägstehen und hatten die gleiche, mandelhafte Form wie die von Aylea, die auf seiner Schulter saß und mich aus wachsamen Bernsteinaugen heraus ansah. Unter dem Trenchcoat meines Bruders konnte man nicht viel von seinem restlichen Körperbau erahnen, doch man sah an seinen breiten Schultern, dass er ein muskulöser Mann war.
Ich sah ihn noch einen Moment lang an, dann legte ich den Kopf schief und erwiderte seinen Blick kühl. Wir beide blieben still.
Mein Bruder schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein, deshalb drehte ich mich wieder um und starrte erneut auf die Bruchstelle im Geländer. Schließlich riss ich den Blick von dem erschreckenden Anblick los und sah einfach nur auf die blasse Eisschicht, die den Fluss unter sich begraben hatte. Ich konnte durch die neue Wahrnehmung sogar das Fließen des Stromes sehen, der sich langsamer bewegte als sonst. Ich sah wie das strömende Wasser kleine Eisstücke von der unteren Kristallschicht ablöste und sie mit sich fortriss, bis sie in den Fluten schmolzen.
Ich spürte den Blick meines Bruders wie ein unangenehmes Kribbeln im Nacken und die feinen Härchen stellten sich auf. Ich drehte mich langsam um, darauf bedacht die Augen auf den Boden gerichtet zu haben und hob, als ich meinem Bruder genau gegenüber stand den Kopf. Er hatte eine der buschigen Augenbrauen besorgt hochgezogen und ich erkannte einen Anflug von Mitleid in seinem Blick. Ich konnte es nicht fassen, da brachte er tatsächlich Mitgefühl für mich auf…mich…ein Monster…obwohl sein eigenes Leben von Komplikationen durchzogen war.
Ich schüttelte leicht den Kopf und hätte beinahe hart aufgelacht, doch ich hielt mich zurück. Ich stand einfach nur da und erwiderte seinen Blick kalt.
„Was ist nur mit dir geschehen…?“, er sagte es eher zu sich selbst und erwartete auch keine Antwort von mir. Ich hätte auch gar keine gehabt, ich wusste nicht, was mit mir passiert war… Schließlich sah Aylea mich direkt an und fing meinen Blick mit ihren katzenhaften Bernsteinaugen ein. Sie ließ ein leises Klacken vernehmen, das sie mit dem Schnalzen ihrer Zunge verursachte und zog damit alle Aufmerksamkeit auf sich.
„Mieron, wir werden dich auf deiner Reise begleiten…“, sagte sie mit heller Stimme, die jedoch einen befehlenden Unterton hatte.
Ich stockte. Starrte die Kattadame einen langen Atemzug einfach nur an, dann meinte ich bestimmt: „Das geht nicht, ich bin nicht gut für euch…“
„Das ist nicht wahr“, mein Bruder packte mich an den Schultern und bohrte seinen weichen, freundschaftlichen Blick in meinen, „Du bist mein Bruder, und ich werde nicht zulassen, dass es dich auffrisst…“
Ich winkte nur nüchtern ab und tauchte mit unmenschlicher Schnelligkeit unter seinen Armen hindurch, die immer noch auf meinen Schultern geruht hatten.
„Arkaras, du solltest mittlerweile bemerkt haben, dass Bitten und gutes Zureden, bei Mieron nichts nützen, du musst ihn einfach vor vollendete Tatsachen stellen. Wir begleiten ihn und damit basta“, meinte Aylea mit dem ihr eigenen, schalkhaften Unterton. Ich verdrehte entnervt die Augen und bedachte die kleine Kattadame mit einem bösen Blick, den sie aber mit einem frechen Lächeln abtat, das sich immer dann über ihre Lefzen zog, wenn sie sich ihrer Sache sicher war. Wenn sie das tat, dann war die Diskussion meistens schon beendet. Doch ich war fest davon überzeugt, dass die Beiden auf meinen Wegen absolut fehl am Platz waren. Sie gehörten nicht in die dunklen Schatten in denen ich dem Schicksal nach wandern musste und sie gehörten schon gar nicht an meine Seite…an die Seite eins Dämons…
Ich schüttete langsam den Kopf und fixierte Aylea dabei mit kaltem Blick.
„In diesem Fall lasse ich mich auch nicht mit einem Trick täuschen…“, meinte ich, in meiner Stimme lag der bittere Ernst.
„Hör zu“, entgegnete Aylea gelassen. Sie schien einfach nicht zu bemerken, dass ich wirklich nicht wollte, dass sie mitkamen…oder wollte sie es einfach nicht mitbekommen?
„Du kannst in diesem Zustand nicht alleine herumreißen, du gefährdest damit dich und alle anderen, die sich für kurz oder lang in deiner Gegenwart aufhalten“, hielt die Kattadame gegen meinen Starrsinn an.
„Wenn ihr mitkommt, bringe ich euch in Gefahr“, konterte ich und warf dabei unbewusst einen Blick auf das zerstörte Mauerwerk des Brückengeländers.
„Wir können schon auf uns aufpassen…“, schaltete sich mein Bruder mit seiner rauen Stimme ein. Es kam so unerwartet, dass er sich in die Unterhaltung einmischte, da er normalerweise Aylea das Sprechen überließ und sich bei solchen Dingen immer stumm im Hintergrund hielt, dass ich verwirrt blinzelte und einige Momente lang einfach nur reglos in seine Richtung blickte. Arkaras erwiderte meinen Blick, die Sorge um mich lag immer noch darin. Noch weitere, lange Augenblicke verstrichen, bis ich mich schließlich bewegte. Ich wandte den Blick ab und starrte in eine Ferne, die nur ich erkennen konnte.
Ich konzentrierte mich für ein paar Sekunden auf meine Atmung, dann schaute ich wieder zu meinem Bruder und seinem Seelentier, ohne die beiden wirklich zu sehen. Sie waren wie zwei Schatten, über die ich einfach hinwegblickte, obwohl es aussah, als würde er sie direkt anschauen. Warum warf mein Bruder die Strategie um, nach der Aylea und er schon seit Jahren spielten? War das geplant, oder war es einfach nur ein spontaner Einwurf gewesen? Egal was es war, mein Bruder hatte mich damit aus dem Konzept gebracht, und dies nutzte Aylea jetzt aus: „Stell dir vor was passieren würde, wenn du unter Menschen bist und der Dämon plötzlich Besitz von dir ergreift. Was dann? Wenn niemand da ist, der dich aus diesem Zustand reißen kann?“
Ich schrak bei dem Gedanken an einen Ausbruch unter Menschen zusammen und sofort schlichen sich Bilder von verwüsteten Häusern und ausgebluteten Körpern in meine Gedanken. Ich schüttelte ruckartig den Kopf um die Bilder aus meinem Unterbewusstsein zu vertreiben.
Arkaras unterbrach Aylea, die mir gerade eben weitere Beispiele geben wollte, mit einer sanften Berührung an der grauen Schnauze und sie klappte ihr Mäulchen gehorsam wieder zu, auch wenn sie die Augen genervt verdrehte, was mein Bruder aber anscheinend nicht bemerkte.
Erneut tauchten die schrecklichen Bilder vor meinem inneren Auge auf und mein Kopf begann zu schwirren.
Ich legte ihn in den Nacken und versuchte meine Gedanken wieder in die Gegenwart zu lenken, doch es gelang mir nicht vollends die Vorstellungen aus meinem Unterbewusstsein zu vertreiben.
Arkaras packte mich an den Schultern und schüttelte mich, es war nicht fest, aber es half, um mich aus meinen Gedanken zu reißen.
„Mieron, Mieron!“, drang es wie durch Watte an meine Ohren und erst jetzt bemerkte ich, dass ich am Stein des Geländers nach unten gerutscht war und nun am Boden, im Schnee saß. Ich starrte immer noch gen Himmel, sodass ich direkt in die fallenden Schneeflocken blickte. Dieses langsame Schweben wirkte so unecht, als würden sich die weißen Kristalle nicht auf mich zubewegen, sondern ich mich auf sie. Mir wurde schwindlig und ich schloss die Augen.
Der Schnee auf dem ich saß war warm und ich wäre am liebsten einfach hier sitzen geblieben, doch ich wurde von zwei starken Händen wieder auf die Beine gezogen.
Erneut wurde mein Körper durchgeschüttelte und ich öffnete die Augen. Mein Blick traf als erstes den meines Bruders und er seufzte erleichtert auf.
„Was war denn los?“, fragte er besorgt und ließ meine Schultern wieder los. Meine Glieder fühlten sich seltsam zittrig an. In diesem Moment kam ich mir so schwach vor, wie noch nie. Warum war mir plötzlich so elend zu Mute? Das konnte doch nicht nur an den Bildern liegen, die mein Unterbewusstsein heraufbeschworen hatte.
„Ich weiß es nicht…“, meine eigene Stimme klang in meinen Ohren seltsam weit entfernt und viel zu brüchig. Ich tastete vorsichtig nach meinen Erinnerungen an die vergangenen Minuten, fand aber nur das was ich schon wusste.
Als ich in meinem Bewusstsein weiter hinunter stieg, stieß ich auf eine Mauer, die sich in der Mitte meiner Gedanken aufzog. Ich rannte mit aller Kraft dagegen, doch die Barrikade fiel nicht. Ich wollte mich wieder zurückziehen, doch als ich mich anschickte wieder aus meinen Gedanken aufzutauchen durchwalte mich ein seltsamer Eindruck, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Ich sah meinen Bruder, doch mein Blick war nicht auf seine Augen konzentriert, so wie ich es sonst tat, sondern auf seine Halsschlagader, die in einem gleichmäßigen Puls gegen seine Kehle hämmerte. Ein heißes Verlangen stieg in mir auf und ich bleckte die Zähne. Mein Bruder schien nichts zu merken, doch Aylea machte einen Buckel und stellte das Fell auf. Ich taumelte und merkte, wie meine Kräfte von einer Anziehungskraft wieder tief in mein Bewusstsein gezogen wurden. Ich konnte nur noch verschwommen wahrnehmen, was um mich herum geschah und kam mir vor, als würde ich aus einer tiefen Höhle heraus alles beobachten.
Da fiel mir ein, was das für eine Erinnerung war, der Dämon hatte, wenn auch nur für kurze Zeit, die Kontrolle über mich erlangt und war kurz davor gestanden meinen Bruder anzufallen. Er entwickelte nach und nach ein Eigenleben…
Ich kniff kurz die Augen zusammen. Das durfte doch nicht wahr sein! Ich hatte doch erst vor kurzem alles verloren, war gestorben und jetzt sollte ich ein ewiges Leben mit einem Parasiten in mir verbringen.
Ich öffnete die Augen wieder einen Spalt breit und sah meinen Bruder an, der mich immer noch besorgt musterte. Wie konnte er sich nur Sorgen um mich machen, wenn er sich doch Sorgen um sein Leben machen musste, wenn er in meiner Nähe war?
„Mieron, was ist denn los?“, fragte Arkaras und trat einige Schritte zurück, als er sah welche Furcht sich in meinem Blick spiegelte.
„Ist schon gut…“, winkte ich forsch ab, während mein Blick unwillkürlich zu Aylea zuckte. Sie sah mich aus ihren wachsamen Bernsteinaugen heraus an und ich erkannte ein entschlossenes Funkeln darin, das mich misstrauisch werden ließ.
„Nein, es ist nicht gut!", warf die Katta ein und der schalkhafte Unterton in ihrer Stimme war einem rohen Zischen gewichen, das aber nicht mir, sondern dem Dämon galt. Ihre gelblichen Augen zuckten noch einmal über meinen ganzen Körper und überprüften meine Haltung. Als sie nichts erkannte, was auf den Dämon hinwies, ließ sie sich auf Arkaras´ Schulter auf die Hinterläufe sinken.
Mein Blick schweifte wieder auf meinen Bruder, der seine Tierseele verwirrt ansah.
„Was. Ist. Passiert??“, fragte er noch einmal eindringlich und schaute abwechselnd von mir zu Aylea.
„Der Dämon…er hat…für einen kurzen Moment…die Kontrolle über…mich erlangt…“, meinte ich langsam und blickte dabei gen Himmel. Die Wolken hatten einen gräulicheren Stich als der Schnee, doch der Unterschied fiel vermutlich nur mir und einer Hand voll magischen Wesen auf. Für einen normalen Menschen wirkte der verhangene Himmel genauso weiß wie der Schnee.
Ich senkte den Kopf wieder und mein Blick traf den meines Bruders. Seine Augen lagen vor Schreck noch weiter in den Höhlen und sein ganzes Gesicht war von der Angst gezeichnet, auch wenn er versuchte sie hinter einer Maske zu verstecken. Ich konnte sie sehen…konnte sie riechen…
„Was?!“, Arkaras konnte seine Bestürzung nicht verbergen und ich konnte auch genau erkennen, dass er automatisch einen Abstand zwischen uns aufbaute. Aylea hingegen rang sich dazu durch von Arkaras´ Schulter zu springen und setzte sich vor mir auf den Boden. Ihre Bewegungen waren äußerst vorsichtig und sie war immer noch in Alarmbereitschaft. Ich ließ mich auf die Knie sinken und strich der Kattadame einmal kurz durch das Fell. Es fühlte sich zwischen meinen Fingern an wie weiche Borsten, die mit Wachs überzogen waren. So spitz und rau und doch zugleich fein fühlte sich ihr Pelz an. In Wahrheit war es nur eine dünne Eisschicht, die sich über das Fell der Katta gelegt hatte. Es war wie ein feiner Film aus einzelnen Sandkörnchen, die in einer gewissen Weise irgendwie zusammengehörten.
Aylea sah mir tief in die Augen und stützte ihre Vorderpfoten gegen mein linkes Knie. Scharfe Krallen durchbohrten beinahe den Stoff meiner Hose und hinterließen Abdrücke an denen sich die Fasern des Stoffes lösten. Die Kattadame legte ihre Schnauze an meine Nase und meinte: „Wir werden eine Lösung finden…“
Ich konnte nun nichts mehr von ihrer Vorsicht spüren. Doch mein Bruder blieb immer noch auf Abstand. Er war nie wirklich mit der magischen Welt im Einklang gewesen und die Dämonen waren etwas, das er schon immer verabscheut hatte.
„Nein…Nein werden wir nicht, dafür gibt es keine Lösung…“, entgegnete ich bitter und schob Aylea von mir weg, dann erhob ich mich. Ich kam mir immer noch ein Bisschen entkräftet vor, doch es ging. Ich lehnte mich an die Reste des Geländers und sah meinen Bruder und seinen Seelenträger aus den Augenwinkeln heraus an. Doch mein eigentlicher Blick galt der langsam erwachenden Stadt in der sich bereits die ersten Leute tummelten. Nach meinem Gefühl war es ungefähr sieben Uhr morgens und es war wenn ich mich nicht täuschte Donnerstag. Also waren die Erwachsenen auf dem Weg zur Arbeit und Kinder und Jugendliche machten sich zur Schule auf. Keiner derer, die in der Nähe der Brücke vorbeikamen würdigte uns auch nur eines Blickes. Was auch gut war…
Ich konzentrierte mich wieder auf die gegenwertige Lage.
„Natürlich gibt es die, wir müssen nur lange genug suchen“, meinte Aylea überzeugt.
„Aber, du siehst doch, dass der Dämon beginnt stärker zu werden…“, ich schluckte, „ …bald kann er mich vermutlich länger als nur ein paar Augenblicke kontrollieren…und was dann??“, entgegnete ich matt. Langsam wurde mir die Diskussion mit der Kattadame zu viel.
„Soweit lassen wir es gar nicht kommen…“, meinte mein Bruder und kniete sich neben Aylea, nahm die Katta auf und erhob sich dann wieder. Das alles wusste ich, obwohl ich gar nicht hinsah, ich hörte wie der Schnee unter Arkaras´ Schuhen knirschte und wie die kleinen Pfötchen von Aylea zuerst durch das weiße Pulver und dann über den Arm meines Bruders tapsten. Dann hörte ich erneut das Knirschen von Schneeflocken und hatte damit Gewissheit darüber, dass mein Bruder nun direkt neben mir stand.
„Und was willst du dagegen machen?“, meinte ich bissig und sah Arkaras wieder direkt an. Meine Augen mussten so kalt funkeln, dass er vor mir zurückschreckte und wieder eine gewisse Distanz zwischen uns aufbaute.
„Ich weiß es nicht…“, gaben die Beiden kleinlaut zu und duckten sich im selben Moment schuldbewusst.
„Wir…machen es schlimmer…nicht wahr?“, fragte Aylea plötzlich zögernd und legte dabei die Ohren dicht an den Kopf. Sie hatte ihr grau – weißes Haupt in eine schiefe Position gebracht und sah mich mit einer Mischung aus Entschuldigung und Hoffnungslosigkeit an. Das war eine der Eigenschaften von Aylea, die ich sowohl schätzen als auch hassen gelernt hatte. Sie wusste, wann ein Kampf verloren war. Wenn sie dies spürte, dann gab sie auch auf, aber manchmal tat sie das zu früh. Manchmal war es ihr einfach nicht Wert ihr Leben, und das von Arkaras aufs Spiel zu setzen, nur um sich nicht zu ergeben. Eine Eigenschaft die man bei mir voll und ganz vermisste. Ich hätte jeden Kampf ausgetragen, auch wenn es noch so aussichtslos war, da war ich mir sicher. Und ich würde auch gegenüber dem Dämon nicht kampflos aufgeben. Aber ob ich bei meiner Auseinandersetzung mit mir selbst Begleitung brauchte, das wusste ich nicht. Es war kompliziert.
Es reichte selbst über meinen Horizont hinaus und ich konnte es einfach nicht verstehen. Einerseits war eine Begleitung auf den dunkelsten Wegen immer wie ein Licht für mich gewesen, das mich nicht zusammenbrechen ließ. Andererseits konnte aus dem Leuchten in diesem Fall schnell noch größere Dunkelheit werden, wenn ich meinen Dämon einmal nicht unter Kontrolle hatte und mein Bruder oder Aylea zu nahe bei mir waren...
„In gewisser Weise ja…“, entgegnete ich der Kattadame nach einigen Augenblicken, in denen ich meinen Gedanken hinterher gehangen war.
Meine Augen richteten sich auf meinen Bruder, der mich ungläubig, ja beinahe fassungslos anstarrte und ich nickte noch einmal zur Bekräftigung meiner Worte.
Es war schwer ihm das anzutun, er war in der Vergangenheit immer sehr einsichtig mir gegenüber gewesen, doch es war die einzige Möglichkeit um ihn dazu zu bringen mich alleine gehen zu lassen. Deshalb musste es wohl sein.
Aber mein Bruder durchbrach wieder einmal meine Pläne indem er einfach auf mich zuging und mir den Arm auf die Schulter legte. Es war ein stummes Versprechen, dass er mich nie alleine lassen würde und Arkaras hielt sein Wort ausnahmslos immer.
Ich stieß seine Hand unsanft von meiner Schulter.
„Ich. Will. Euch. Nicht. Dabei. Haben.“, ich betonte jedes Wort wie einen Satz. Sie klangen fast wie verbale Messerstiche, die meinen Bruder immer tiefer trafen.
Er wich zurück und sah mich einfach nur ungläubig an. Ich glaubte eine Träne in seinem Augenwinkel glitzern zu sehen, aber es konnte auch einfach eine Schneeflocke sein, die sich dort niedergelassen hatte und nun schmolz.
Aylea wandte den Blick kurz von mir ab und sah Arkaras in die Augen, sie schienen sich stumm zu beraten, dann schleckte sie ihm einmal kurz über die Wange und berührte ihn flüchtig mit der Vorderpfote.
„Wenn du das nicht willst, verstehen wir das…geh deiner eigenen Wege, gib uns aber Bescheid, wenn du dich doch dazu entschließt unsere Hilfe anzunehmen…“, meinte die Kattadame seelenruhig und etwas, das ich nicht erkennen konnte blitzte in ihren Augen auf.
Dann sprang sie von Arkaras´ Schulter und kam zu mir gelaufen. Sie strich zum Abschied um meine Beine herum, dann wandte sie sich ab und machte sich mit hängendem Schwanz auf den Weg in Richtung Stadt.
Konnte ich sicher darüber sein, dass das was ich da tat das richtige war? Ich vertrieb die letzten Beiden, die noch auf meiner Seite gestanden hatten und würde sie vielleicht nie wieder sehen…
Ich klappte den Mund auf um noch etwas zu sagen, aber ich fand nicht die richtigen Worte.
Mein Bruder sah mich noch immer an, aber sein Blick war mittlerweile nicht mehr erschrocken, sondern einfach nur traurig. Schließlich drehte er sich um und schickte sich an, seinem Seelenträger zu folgen.
Endlich konnte ich wieder Worte fassen und sagte so leise, dass ich bezweifelte, dass es die beiden gehört hatten: „Bitte, geht nicht…“
Mein Bruder hatte meine Worte anscheinend wirklich nicht wahrgenommen, aber Aylea blieb stehen und drehte sich um. Sie stellte den langen Schwanz freudig auf und ihre Augen blitzten schalkhaft auf. Sie gab einen seltsamen Laut von sich, den kein anderes Tier außer ihr verursachen konnte und lief auf mich zu, wobei ihr Schwanz in einem ungleichmäßigen Takt hin und her wiegte. Mein Bruder drehte sich verwundert zu mir um und zog fragend eine Augenbraue hoch, doch ich konnte ihm keine Erklärung abgeben, da ich in diesem Moment von Aylea ungestüme angesprungen wurde. Ich kam durch die Überraschung ins Straucheln und kippte beinahe rücklings in den Schnee.
Schließlich landete ich auf dem vereisten Boden der Brücke und konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. Die Kattadame schleckte mir einmal über das Gesicht und ließ dann von mir ab. Ich rappelte mich auf und sprang auf die Beine.
Mein Bruder sah uns beide immer noch verwirrt an und bevor ich ihm etwas sagen konnte berichtete Aylea ihm die erfreuliche Nachricht: „Er will doch, dass wir mitkommen!“
Ich glaubte zu sehen, dass die Katta Arkaras zuzwinkerte, doch meine Wahrnehmung spielte mir sicher nur wieder einmal einen Streich, was mit dieser neuen Sicht auch nicht verwunderlich war, da ich nun jede Bewegung überdeutlich erkannte.
Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht meines Bruders aus und er kam zu mir und Aylea gelaufen. Die Kattadame machte ihm Platz und mein Bruder musste sich offensichtlich zurückhalten mir nicht vor Freude um den Hals zu fallen. Sein Grinsen wurde noch breiter und die Lachfältchen breiteten sich wie Spinnennetze um seine Augen aus, ein Lächeln, das ich allerdings nicht erwidern konnte.
Ich war mir nicht sicher ob es gut war, was ich da tat. Wenn ich nun einmal meine Beherrschung verlor, das würde ich mir nie verzeihen können…
Doch auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, wenn ich alleine blieb, würde ich bald am Rand des Wahnsinns stehen.
Mein Bruder sah mich immer noch freudestrahlend an.
Schließlich schloss er mich in die Arme und drückte mich brüderlich an sich. Ich versteifte mich, ließ es jedoch einfach geschehen. Als ich fühlte wie mein Blick wieder zu seiner Halsschlagader wanderte, wandte ich mich geschickt wie eine Schlange aus der Umarmung. Um ihn jedoch nicht wieder zu vergraulen legte ich meine Hand auf seine Schulter und versuchte mich an einem Lächeln.
Mein Bruder gluckste los und stieß zwischen den Zähnen heraus: „Du siehst aus, als hättest du in eine saure Zitrone gebissen, Brüderchen…“
Sein Lachen begeisterte mich ganz und gar nicht. Außerdem wusste ich, dass er das nicht so lustig fand, wie er es darstellte, er wollte die Situation nur entschärfen. Ich schüttelte nur resigniert den Kopf und setzte wieder meine kalte Maske auf, die ich schon seit langem nicht mehr abgelegt hatte.
„Du solltest vielleicht wieder öfter lächeln…“, meinte Aylea, die ebenfalls nichts Lustiges daran zu finden schien. Ihre Stimme klang eher traurig. Sie hatte wohl meine Gedanken erraten. Wie schon so oft. Ich schüttelte nur erneut stoisch den Kopf und wandte mich zum Gehen ab, doch Aylea hielt mich mit einem klackenden Zungenschnalzen zurück.
„Wir haben ein Apartment hier in der Stadt, dort gehen wir jetzt erst mal hin“, meinte sie und sprang auf das Gemäuer des Geländers, das noch ganz war.
Arkaras ging zu der Kattadame hinüber und strich ihr flüchtig durchs Fell. Ich runzelte die Stirn und steckte die Hände in die Taschen meines Mantels, blieb aber da stehen, wo ich war.
Arkaras drehte den Kopf herum.
„Komm schon“, sagte er und machte eine auffordernde Kopfgeste.
Ich setzte mich langsam in Bewegung, blieb aber auf Abstand. Meine Schritte knirschten im Schnee und ich wirbelte mit meinen Schuhspitzen die weißen Flocken auf.
Als durch das geringer werdende Treiben die ersten Häuser in Sicht kamen lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich hasste Städte und vor allem die Menschen in den Städten. Meine Nackenhärchen stellten sich auf und meine Wahrnehmung schaltete auf Alarmbereitschaft um. In regelmäßigen Abständen wurde Adrenalin durch meinen Körper gepumpt. Ich erkannte nun alles mit doppelter Schärfe und meine Augen zuckten unaufhörlich hin und her, um alles im Blick zu behalten.
Schließlich standen wir im Schatten des ersten Hochhauses und ich kniff die Augen zusammen. Ich lauschte in den Lärm der Menschenwelt hinein und ein weiterer Schauer lief mir über den Rücken. Mein Puls beschleunigte sich automatisch, als mein Blick über den großen, grauen Betonblock zuckte. Die Fenster waren größtenteils verdreckt und das Gebäude wirkte verlassen. Nur hinter einer einzigen Scheibe bewegte sich etwas. Ich sah die Silhouette einer Frau hinter dem zugezogenen Vorhang, die in einem großen Lehnsessel saß und ein Buch in der Hand hielt. Ich sah wie die schemenhafte Frau das Buch weglegte und aufstand. Ich ließ den Blick auf das Fenster gerichtet.
Mein Bruder packte mich am Ellbogen und zog mich weiter. Aylea lief hinter mir her und strich ab und an an einer Häuserwand entlang. Sie konnte von den Menschen ja nicht gesehen werden.
Ich lief einfach nur schweigend neben meinem Bruder her und ließ meinen Blick immer wieder über die Gebäude der Stadt schweifen. Je weiter wir in Richtung des Stadtkernes kamen, desto dichter drängten sich die grauen Häuserriesen aneinander. Außerdem wurden die Gebäude immer höher und sahen alle gleich aus.
Wir waren beinahe bei dem Apartmentblock angekommen, in dem mein Bruder wohnte, als ein Mädchen mit gesenktem Kopf an uns vorbei eilte.
Ihre langen Haare, deren Farbe sich in den verschiedensten Braun- und Blondtönen abwechselte hingen ihr bis zur Taille hinunter und kräuselten sich auf ihrem Rücken in feinen Wellen. Die einzelnen Strähnchen reflektierten das kühle Morgenlicht und blitzten immer wieder golden auf. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, da sie den Blick nach unten gerichtet hielt und ihr die Haare wie ein Vorhang über die Schulter hingen. Sie war in schlichtes Schwarz gekleidet und hatte einen eher zierlichen Körperbau. Doch es war nicht ihr Aussehen, das meine Aufmerksamkeit erregte, sondern der Geruch, der ihr anhaftete. Sie roch beinahe nach Blut. Es war fast derselbe salzig, metallische Duft, doch etwas Künstliches trübte ihn. Als ich diese dünne Spur ignorierte roch ich den süßen Geruch von Blütenblättern, die im Herbstwind von den Blumen gerissen wurden und dann in einem seichten Gewässer zum liegen kamen. Außerdem mischte sich noch der fast unmerkliche Geruch von Eis in ihre Fährte. Sie war eine Vampirin…
(Ich wollte doch eig. gar nicht so viel schreiben... naja...)
1.Nacht
Gebrochen
Sanft vielen einige Schneeflocken auf den gefrorenen Fluss, der sich unter der schmalen Brücke hindurch schlängelte. Auch der steinerne Boden unter meinen Füßen war bereits mit einer feinen Schicht weißer Kristalle überzogen, die sich dicht an dicht drängten um eine dünne, farblose Decke über dem Land zu bilden, die alles in einem unwirklichem Licht erscheinen ließ.
Der Schnee reflektierte das blasse Winterlicht der Sonne und ließ die weißen Flocken glitzern. Das Pulver unter meinen Füßen knirschte, als ich mich weiter vorbeugte um mich an dem Brückengeländer abzustützen. Der Schnee, der nach meiner Erinnerung kalt sein müsste, fühlte sich auf meiner Haut seltsam warm an und eher wie ein weiches Federbett als eine Schicht aus tausenden von Eiskristallen. Wenn die Brücke nicht unter einer Schneedecke lag, dann war ich Boden wohl aus grauem Stein, der unregelmäßig aneinander gereiht war. Diese Willkür zeugte von dem Alter der Brücke, denn in der heutigen, perfektionistischen Welt, war jeder Millimeter immer genauestens geplant…
Genau diese Eigenschaft war es, die die Brücke so schön machte, sie harmonierte noch mit dem Wald, der ihren Fuß auf der linken Seite umrandete und sich noch weit gen Norden erstreckte.
Auch das Geländer war aus demselben mausgrauen Stein und war an der Oberkante mit einem schlichten Stuck aus Zinn besetzt, von dem die schwarze Farbe bereits abblätterte.
Ich hob meinen Blick von der Geländerumrahmung und sah in Richtung Stadt.
Durch das immer dichter werdende Schneetreiben konnte ich nur die Silhouetten der vordersten Häuser erkennen und auch diese hoben sich nur als schwarze Schemen von dem weißen Horizont ab. In einiger Entfernung zu der Stadt und in unüberbrückbarem Abstand zu mir stand eine Person, mein Bruder. Er stand wie ich in Richtung der Häuser gewandt und vermied es zu mir zu sehen.
Den ganzen Tag war ich derjenige gewesen, der auf Abstand gegangen war, doch jetzt ging diese Schlucht zwischen uns nicht von mir sondern von meinem Bruder aus.
Auch wenn ich gewusst hatte, dass wir nie wieder so sorglos miteinander umgehen konnten hatte ich tief in meinem Innersten gehofft, dass er über diesen dunklen Aspekt meiner Existenz hinwegsehen könnte. Aber was erwartete ich mir eigentlich? Ich hätte ja auch nicht anders reagiert, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre. Doch das war ich nicht, ich war ich…ich war das Monster von uns beiden…
Ich hörte ein Rascheln in den Bäumen, mein Gehirn aktivierte automatisch meine Jagdinstinkte und ich duckte mich in lauernder Haltung. Ein Schatten löste sich aus den Bäumen. Es war Aylea. Die graue Katta sprang auf das Brückengeländer und ging, in gebührendem Abstand zu mir, über das Geländer zu meinem Bruder hinüber. Sie hatte ihren dunkelgrau - weiß gestreiften Schwanz stolz aufgestellt und reckte ihre gräuliche Schnauze dominant in die Luft. Ihre gelblichen Augen blitzten wachsam in meine Richtung und sie wandte den Blick keinen Moment von mir ab, immer bereit zur Gegenwehr. Die Kattadame war vom Wesen her so anders als mein Bruder, das man auf den ersten Blick nicht glauben konnte, dass sie zusammengehörten, doch wenn man genauer hinsah, konnte man auch ihre gemeinsamen Seiten wahrnehmen. Auch Sayeron und ich waren so grundverschieden…gewesen.
Schnell richtete ich den Blick wieder auf den vereisten Bach, als ich merkte wie mir Tränen in die Augenwinkel stiegen. Ärgerlich blinzelte ich den Schleier weg und hätte beinahe laut auf geknurrt.
Als ich meine Fassung wiedergefunden hatte drehte ich mich um und lehnte mich rücklings an das Geländer. Wieder viel mir auf, dass der Schnee seltsam warm, ja beinahe heiß war…
Aylea war bereits bei meinem Bruder angekommen und ich sah sie wie ein Schatten auf seine Schulter springen.
Er blickte immer noch in Richtung Stadt. Irgendwann mussten wir wieder miteinander sprechen, wir konnten doch nicht wegen…mir…auseinander brechen.
Es war doch nicht meine Schuld…oder doch?
Ich schüttelte den Kopf. Es war dumm jetzt darüber nachzudenken. Es war wie es war und daran konnte ich nichts ändern. Ich löste den Blick von der Silhouette meines Bruders und starrte in den verschneiten Wald. Einer der Bäume, die den äußersten Rand bildeten hatte den gestrigen Sturm nicht heil überstanden, er war in der Mitte durchgebrochen, wie ein Zahnstocher. Die Bruchstelle war ausgefranzt und überall um die Wunde herum haftete Harz.
Der Baum war wohl einmal eine Buche gewesen, doch jetzt lagen die blattlosen Äste, abgetrennt von ihrer Verbindung zum Erdreich am Boden und der Baum würde vermutlich vollkommen in sich zusammenbrechen, bevor der Schnee geschmolzen war. Oder die Menschen würden kommen um das morsch werdende Holz abzuhacken, damit sie es, bevor es vollends verfiel, noch als Brennmaterial benutzen konnten. Sie wussten ja gar nicht, dass wenn sie dem Baum nur lange genug Zeit gaben, sich wieder Leben auf der kalten Rinde bilden würde. In Form von überwuchernden Pflanzen, Moos und Flächten, aber man gab ihm ja gar nicht die Zeit dazu…
Mittlerweile verglich ich in Gedanken den toten Baum mit mir. Doch da gab es gravierende Unterschiede. Ich war tot, ebenfalls in der Mitte gebrochen…aber in mir hatte sich ein Parasit eingenistet, der kein neues Leben in meiner Hülle zuließ. Trotzdem wurde ich immer viel zu schnell abgeschrieben, es gab doch noch Hoffnung…die gab es doch noch?
Ich schüttelte die Gedanken ärgerlich ab und starrte in eine andere Richtung. Konnte ich nicht einmal Ruhe vor diesen Überlegungen haben? Mein Bruder hatte im Übrigen vollkommen Recht damit, dass er sich und Aylea von mir fern hielt, ich war einfach zu gefährlich für ihn…
Meine Gedanken kreisten in einem so rasenden Tempo, dass mir beinahe schwarz vor Augen geworden wäre. Dunkle Flecken tanzten bereits durch meine Wahrnehmung und ich musste mehrmals die Augen zusammenkneifen um das Schwindelgefühl wieder zu vertreiben.
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich mich fester am Brückengeländer verkrallt hatte, doch plötzlich brach es zwischen meinen Fingern. Das Bröckeln der Steine hörte sich in meinem Ohren laut an und dröhnte hinter meinen Schläfen noch langen nach dem es eigentlich schon verklungen war. Ich drehte mich um und sah, dass ich bis über die Hälfte des Geländersimses abgerissen hatte. Ungläubig starrte ich auf die Bruchfläche, die mit weißlichem Steinpulver überzogen war, das bei dem sanften Wind, der im Moment über das Land fegte, aufgewirbelt wurde und für kurze Zeit wie ein undurchdringbarer Nebelschleier in der Luft hing, dann verflog es.
Man sah genau wo ich mich an dem Geländer festgekrallt hatte, dort waren lange kratzerartige Spuren in den Stein geritzt. Außerdem war der Zinnstuck in der Mitte auseinander gebrochen und stand nun verbogen von der Mauer ab.
Ich war so in mein Erstaunen vertieft, dass ich erschrocken herumwirbelte als ich den Schnee direkt neben mir Knirschen hörte. Ich bleckte angriffsbereit die Zähne und duckte mich lauernd. Mein Blick viel aber sobald ich mich umgedreht hatte auf meinen Bruder, der direkt neben mir stand und meine Haltung entspannte sich ein wenig. Trotzdem zuckte mein Blick immer wieder wachsam nach links und rechts. Mein Gehirn hatte Adrenalin durch meinen Körper gejagt und jetzt stand ich wie unter Strom. Meine Wahrnehmung bekam einen seltsam blassen Stich und die Duftspuren, die hier vorbei führten sprangen mir in allen möglichen Farbvariationen in die Augen, da sie sich wie Lichter von der sonst fast grauen Umgebung abhoben. Ich erkannte die Farben, die zu dieser Jahreszeit sowieso nur dürftig vertreten waren nun nur noch verschwommen. Ich blinzelte zweimal, doch die seltsame Wahrnehmung wollte nicht verschwinden. Noch einmal kniff ich die Augen zusammen, gab es aber schließlich auf und blickte wieder zu meinem Bruder, der mich besorgt musterte.
Seine dunkelblonden Haare hingen ihm in lagen Strähnen in die Stirn und seine Frisur sah ein Bisschen aus wie ein nasser Hund. Unter seinen grünlich – blauen Augen, die wie klare Seen bei Sonnenlicht wirkten, hatten sich dunkle Ringe gebildet, die von der Anstrengung zeugten, die er in den letzten Tagen zu bewältigen gehabt hatte. Außerdem war sein Gesicht von der Müdigkeit eingefallen und es hatten sich Schatten unter Augen und in den Mundwinkeln eingeschlichen, die in letzter Zeit viel zu häufig nach unten zeigten. Sein markantes Kinn war leicht kantig und hatte in den letzten Monaten jede Kindlichkeit verloren. Eine stolze Körperhaltung zeugte von Erfahrung und Selbstbewusstsein. Er hatte breite Schultern und seine Haut hatte einen rostbraunen Farbton, der nicht so recht in diese sonst so farblose Stadt passte, in der ausnahmslos alles Grau in Grau war. Seine Augen waren leicht schrägstehen und hatten die gleiche, mandelhafte Form wie die von Aylea, die auf seiner Schulter saß und mich aus wachsamen Bernsteinaugen heraus ansah. Unter dem Trenchcoat meines Bruders konnte man nicht viel von seinem restlichen Körperbau erahnen, doch man sah an seinen breiten Schultern, dass er ein muskulöser Mann war.
Ich sah ihn noch einen Moment lang an, dann legte ich den Kopf schief und erwiderte seinen Blick kühl. Wir beide blieben still.
Mein Bruder schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein, deshalb drehte ich mich wieder um und starrte erneut auf die Bruchstelle im Geländer. Schließlich riss ich den Blick von dem erschreckenden Anblick los und sah einfach nur auf die blasse Eisschicht, die den Fluss unter sich begraben hatte. Ich konnte durch die neue Wahrnehmung sogar das Fließen des Stromes sehen, der sich langsamer bewegte als sonst. Ich sah wie das strömende Wasser kleine Eisstücke von der unteren Kristallschicht ablöste und sie mit sich fortriss, bis sie in den Fluten schmolzen.
Ich spürte den Blick meines Bruders wie ein unangenehmes Kribbeln im Nacken und die feinen Härchen stellten sich auf. Ich drehte mich langsam um, darauf bedacht die Augen auf den Boden gerichtet zu haben und hob, als ich meinem Bruder genau gegenüber stand den Kopf. Er hatte eine der buschigen Augenbrauen besorgt hochgezogen und ich erkannte einen Anflug von Mitleid in seinem Blick. Ich konnte es nicht fassen, da brachte er tatsächlich Mitgefühl für mich auf…mich…ein Monster…obwohl sein eigenes Leben von Komplikationen durchzogen war.
Ich schüttelte leicht den Kopf und hätte beinahe hart aufgelacht, doch ich hielt mich zurück. Ich stand einfach nur da und erwiderte seinen Blick kalt.
„Was ist nur mit dir geschehen…?“, er sagte es eher zu sich selbst und erwartete auch keine Antwort von mir. Ich hätte auch gar keine gehabt, ich wusste nicht, was mit mir passiert war… Schließlich sah Aylea mich direkt an und fing meinen Blick mit ihren katzenhaften Bernsteinaugen ein. Sie ließ ein leises Klacken vernehmen, das sie mit dem Schnalzen ihrer Zunge verursachte und zog damit alle Aufmerksamkeit auf sich.
„Mieron, wir werden dich auf deiner Reise begleiten…“, sagte sie mit heller Stimme, die jedoch einen befehlenden Unterton hatte.
Ich stockte. Starrte die Kattadame einen langen Atemzug einfach nur an, dann meinte ich bestimmt: „Das geht nicht, ich bin nicht gut für euch…“
„Das ist nicht wahr“, mein Bruder packte mich an den Schultern und bohrte seinen weichen, freundschaftlichen Blick in meinen, „Du bist mein Bruder, und ich werde nicht zulassen, dass es dich auffrisst…“
Ich winkte nur nüchtern ab und tauchte mit unmenschlicher Schnelligkeit unter seinen Armen hindurch, die immer noch auf meinen Schultern geruht hatten.
„Arkaras, du solltest mittlerweile bemerkt haben, dass Bitten und gutes Zureden, bei Mieron nichts nützen, du musst ihn einfach vor vollendete Tatsachen stellen. Wir begleiten ihn und damit basta“, meinte Aylea mit dem ihr eigenen, schalkhaften Unterton. Ich verdrehte entnervt die Augen und bedachte die kleine Kattadame mit einem bösen Blick, den sie aber mit einem frechen Lächeln abtat, das sich immer dann über ihre Lefzen zog, wenn sie sich ihrer Sache sicher war. Wenn sie das tat, dann war die Diskussion meistens schon beendet. Doch ich war fest davon überzeugt, dass die Beiden auf meinen Wegen absolut fehl am Platz waren. Sie gehörten nicht in die dunklen Schatten in denen ich dem Schicksal nach wandern musste und sie gehörten schon gar nicht an meine Seite…an die Seite eins Dämons…
Ich schüttete langsam den Kopf und fixierte Aylea dabei mit kaltem Blick.
„In diesem Fall lasse ich mich auch nicht mit einem Trick täuschen…“, meinte ich, in meiner Stimme lag der bittere Ernst.
„Hör zu“, entgegnete Aylea gelassen. Sie schien einfach nicht zu bemerken, dass ich wirklich nicht wollte, dass sie mitkamen…oder wollte sie es einfach nicht mitbekommen?
„Du kannst in diesem Zustand nicht alleine herumreißen, du gefährdest damit dich und alle anderen, die sich für kurz oder lang in deiner Gegenwart aufhalten“, hielt die Kattadame gegen meinen Starrsinn an.
„Wenn ihr mitkommt, bringe ich euch in Gefahr“, konterte ich und warf dabei unbewusst einen Blick auf das zerstörte Mauerwerk des Brückengeländers.
„Wir können schon auf uns aufpassen…“, schaltete sich mein Bruder mit seiner rauen Stimme ein. Es kam so unerwartet, dass er sich in die Unterhaltung einmischte, da er normalerweise Aylea das Sprechen überließ und sich bei solchen Dingen immer stumm im Hintergrund hielt, dass ich verwirrt blinzelte und einige Momente lang einfach nur reglos in seine Richtung blickte. Arkaras erwiderte meinen Blick, die Sorge um mich lag immer noch darin. Noch weitere, lange Augenblicke verstrichen, bis ich mich schließlich bewegte. Ich wandte den Blick ab und starrte in eine Ferne, die nur ich erkennen konnte.
Ich konzentrierte mich für ein paar Sekunden auf meine Atmung, dann schaute ich wieder zu meinem Bruder und seinem Seelentier, ohne die beiden wirklich zu sehen. Sie waren wie zwei Schatten, über die ich einfach hinwegblickte, obwohl es aussah, als würde er sie direkt anschauen. Warum warf mein Bruder die Strategie um, nach der Aylea und er schon seit Jahren spielten? War das geplant, oder war es einfach nur ein spontaner Einwurf gewesen? Egal was es war, mein Bruder hatte mich damit aus dem Konzept gebracht, und dies nutzte Aylea jetzt aus: „Stell dir vor was passieren würde, wenn du unter Menschen bist und der Dämon plötzlich Besitz von dir ergreift. Was dann? Wenn niemand da ist, der dich aus diesem Zustand reißen kann?“
Ich schrak bei dem Gedanken an einen Ausbruch unter Menschen zusammen und sofort schlichen sich Bilder von verwüsteten Häusern und ausgebluteten Körpern in meine Gedanken. Ich schüttelte ruckartig den Kopf um die Bilder aus meinem Unterbewusstsein zu vertreiben.
Arkaras unterbrach Aylea, die mir gerade eben weitere Beispiele geben wollte, mit einer sanften Berührung an der grauen Schnauze und sie klappte ihr Mäulchen gehorsam wieder zu, auch wenn sie die Augen genervt verdrehte, was mein Bruder aber anscheinend nicht bemerkte.
Erneut tauchten die schrecklichen Bilder vor meinem inneren Auge auf und mein Kopf begann zu schwirren.
Ich legte ihn in den Nacken und versuchte meine Gedanken wieder in die Gegenwart zu lenken, doch es gelang mir nicht vollends die Vorstellungen aus meinem Unterbewusstsein zu vertreiben.
Arkaras packte mich an den Schultern und schüttelte mich, es war nicht fest, aber es half, um mich aus meinen Gedanken zu reißen.
„Mieron, Mieron!“, drang es wie durch Watte an meine Ohren und erst jetzt bemerkte ich, dass ich am Stein des Geländers nach unten gerutscht war und nun am Boden, im Schnee saß. Ich starrte immer noch gen Himmel, sodass ich direkt in die fallenden Schneeflocken blickte. Dieses langsame Schweben wirkte so unecht, als würden sich die weißen Kristalle nicht auf mich zubewegen, sondern ich mich auf sie. Mir wurde schwindlig und ich schloss die Augen.
Der Schnee auf dem ich saß war warm und ich wäre am liebsten einfach hier sitzen geblieben, doch ich wurde von zwei starken Händen wieder auf die Beine gezogen.
Erneut wurde mein Körper durchgeschüttelte und ich öffnete die Augen. Mein Blick traf als erstes den meines Bruders und er seufzte erleichtert auf.
„Was war denn los?“, fragte er besorgt und ließ meine Schultern wieder los. Meine Glieder fühlten sich seltsam zittrig an. In diesem Moment kam ich mir so schwach vor, wie noch nie. Warum war mir plötzlich so elend zu Mute? Das konnte doch nicht nur an den Bildern liegen, die mein Unterbewusstsein heraufbeschworen hatte.
„Ich weiß es nicht…“, meine eigene Stimme klang in meinen Ohren seltsam weit entfernt und viel zu brüchig. Ich tastete vorsichtig nach meinen Erinnerungen an die vergangenen Minuten, fand aber nur das was ich schon wusste.
Als ich in meinem Bewusstsein weiter hinunter stieg, stieß ich auf eine Mauer, die sich in der Mitte meiner Gedanken aufzog. Ich rannte mit aller Kraft dagegen, doch die Barrikade fiel nicht. Ich wollte mich wieder zurückziehen, doch als ich mich anschickte wieder aus meinen Gedanken aufzutauchen durchwalte mich ein seltsamer Eindruck, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Ich sah meinen Bruder, doch mein Blick war nicht auf seine Augen konzentriert, so wie ich es sonst tat, sondern auf seine Halsschlagader, die in einem gleichmäßigen Puls gegen seine Kehle hämmerte. Ein heißes Verlangen stieg in mir auf und ich bleckte die Zähne. Mein Bruder schien nichts zu merken, doch Aylea machte einen Buckel und stellte das Fell auf. Ich taumelte und merkte, wie meine Kräfte von einer Anziehungskraft wieder tief in mein Bewusstsein gezogen wurden. Ich konnte nur noch verschwommen wahrnehmen, was um mich herum geschah und kam mir vor, als würde ich aus einer tiefen Höhle heraus alles beobachten.
Da fiel mir ein, was das für eine Erinnerung war, der Dämon hatte, wenn auch nur für kurze Zeit, die Kontrolle über mich erlangt und war kurz davor gestanden meinen Bruder anzufallen. Er entwickelte nach und nach ein Eigenleben…
Ich kniff kurz die Augen zusammen. Das durfte doch nicht wahr sein! Ich hatte doch erst vor kurzem alles verloren, war gestorben und jetzt sollte ich ein ewiges Leben mit einem Parasiten in mir verbringen.
Ich öffnete die Augen wieder einen Spalt breit und sah meinen Bruder an, der mich immer noch besorgt musterte. Wie konnte er sich nur Sorgen um mich machen, wenn er sich doch Sorgen um sein Leben machen musste, wenn er in meiner Nähe war?
„Mieron, was ist denn los?“, fragte Arkaras und trat einige Schritte zurück, als er sah welche Furcht sich in meinem Blick spiegelte.
„Ist schon gut…“, winkte ich forsch ab, während mein Blick unwillkürlich zu Aylea zuckte. Sie sah mich aus ihren wachsamen Bernsteinaugen heraus an und ich erkannte ein entschlossenes Funkeln darin, das mich misstrauisch werden ließ.
„Nein, es ist nicht gut!", warf die Katta ein und der schalkhafte Unterton in ihrer Stimme war einem rohen Zischen gewichen, das aber nicht mir, sondern dem Dämon galt. Ihre gelblichen Augen zuckten noch einmal über meinen ganzen Körper und überprüften meine Haltung. Als sie nichts erkannte, was auf den Dämon hinwies, ließ sie sich auf Arkaras´ Schulter auf die Hinterläufe sinken.
Mein Blick schweifte wieder auf meinen Bruder, der seine Tierseele verwirrt ansah.
„Was. Ist. Passiert??“, fragte er noch einmal eindringlich und schaute abwechselnd von mir zu Aylea.
„Der Dämon…er hat…für einen kurzen Moment…die Kontrolle über…mich erlangt…“, meinte ich langsam und blickte dabei gen Himmel. Die Wolken hatten einen gräulicheren Stich als der Schnee, doch der Unterschied fiel vermutlich nur mir und einer Hand voll magischen Wesen auf. Für einen normalen Menschen wirkte der verhangene Himmel genauso weiß wie der Schnee.
Ich senkte den Kopf wieder und mein Blick traf den meines Bruders. Seine Augen lagen vor Schreck noch weiter in den Höhlen und sein ganzes Gesicht war von der Angst gezeichnet, auch wenn er versuchte sie hinter einer Maske zu verstecken. Ich konnte sie sehen…konnte sie riechen…
„Was?!“, Arkaras konnte seine Bestürzung nicht verbergen und ich konnte auch genau erkennen, dass er automatisch einen Abstand zwischen uns aufbaute. Aylea hingegen rang sich dazu durch von Arkaras´ Schulter zu springen und setzte sich vor mir auf den Boden. Ihre Bewegungen waren äußerst vorsichtig und sie war immer noch in Alarmbereitschaft. Ich ließ mich auf die Knie sinken und strich der Kattadame einmal kurz durch das Fell. Es fühlte sich zwischen meinen Fingern an wie weiche Borsten, die mit Wachs überzogen waren. So spitz und rau und doch zugleich fein fühlte sich ihr Pelz an. In Wahrheit war es nur eine dünne Eisschicht, die sich über das Fell der Katta gelegt hatte. Es war wie ein feiner Film aus einzelnen Sandkörnchen, die in einer gewissen Weise irgendwie zusammengehörten.
Aylea sah mir tief in die Augen und stützte ihre Vorderpfoten gegen mein linkes Knie. Scharfe Krallen durchbohrten beinahe den Stoff meiner Hose und hinterließen Abdrücke an denen sich die Fasern des Stoffes lösten. Die Kattadame legte ihre Schnauze an meine Nase und meinte: „Wir werden eine Lösung finden…“
Ich konnte nun nichts mehr von ihrer Vorsicht spüren. Doch mein Bruder blieb immer noch auf Abstand. Er war nie wirklich mit der magischen Welt im Einklang gewesen und die Dämonen waren etwas, das er schon immer verabscheut hatte.
„Nein…Nein werden wir nicht, dafür gibt es keine Lösung…“, entgegnete ich bitter und schob Aylea von mir weg, dann erhob ich mich. Ich kam mir immer noch ein Bisschen entkräftet vor, doch es ging. Ich lehnte mich an die Reste des Geländers und sah meinen Bruder und seinen Seelenträger aus den Augenwinkeln heraus an. Doch mein eigentlicher Blick galt der langsam erwachenden Stadt in der sich bereits die ersten Leute tummelten. Nach meinem Gefühl war es ungefähr sieben Uhr morgens und es war wenn ich mich nicht täuschte Donnerstag. Also waren die Erwachsenen auf dem Weg zur Arbeit und Kinder und Jugendliche machten sich zur Schule auf. Keiner derer, die in der Nähe der Brücke vorbeikamen würdigte uns auch nur eines Blickes. Was auch gut war…
Ich konzentrierte mich wieder auf die gegenwertige Lage.
„Natürlich gibt es die, wir müssen nur lange genug suchen“, meinte Aylea überzeugt.
„Aber, du siehst doch, dass der Dämon beginnt stärker zu werden…“, ich schluckte, „ …bald kann er mich vermutlich länger als nur ein paar Augenblicke kontrollieren…und was dann??“, entgegnete ich matt. Langsam wurde mir die Diskussion mit der Kattadame zu viel.
„Soweit lassen wir es gar nicht kommen…“, meinte mein Bruder und kniete sich neben Aylea, nahm die Katta auf und erhob sich dann wieder. Das alles wusste ich, obwohl ich gar nicht hinsah, ich hörte wie der Schnee unter Arkaras´ Schuhen knirschte und wie die kleinen Pfötchen von Aylea zuerst durch das weiße Pulver und dann über den Arm meines Bruders tapsten. Dann hörte ich erneut das Knirschen von Schneeflocken und hatte damit Gewissheit darüber, dass mein Bruder nun direkt neben mir stand.
„Und was willst du dagegen machen?“, meinte ich bissig und sah Arkaras wieder direkt an. Meine Augen mussten so kalt funkeln, dass er vor mir zurückschreckte und wieder eine gewisse Distanz zwischen uns aufbaute.
„Ich weiß es nicht…“, gaben die Beiden kleinlaut zu und duckten sich im selben Moment schuldbewusst.
„Wir…machen es schlimmer…nicht wahr?“, fragte Aylea plötzlich zögernd und legte dabei die Ohren dicht an den Kopf. Sie hatte ihr grau – weißes Haupt in eine schiefe Position gebracht und sah mich mit einer Mischung aus Entschuldigung und Hoffnungslosigkeit an. Das war eine der Eigenschaften von Aylea, die ich sowohl schätzen als auch hassen gelernt hatte. Sie wusste, wann ein Kampf verloren war. Wenn sie dies spürte, dann gab sie auch auf, aber manchmal tat sie das zu früh. Manchmal war es ihr einfach nicht Wert ihr Leben, und das von Arkaras aufs Spiel zu setzen, nur um sich nicht zu ergeben. Eine Eigenschaft die man bei mir voll und ganz vermisste. Ich hätte jeden Kampf ausgetragen, auch wenn es noch so aussichtslos war, da war ich mir sicher. Und ich würde auch gegenüber dem Dämon nicht kampflos aufgeben. Aber ob ich bei meiner Auseinandersetzung mit mir selbst Begleitung brauchte, das wusste ich nicht. Es war kompliziert.
Es reichte selbst über meinen Horizont hinaus und ich konnte es einfach nicht verstehen. Einerseits war eine Begleitung auf den dunkelsten Wegen immer wie ein Licht für mich gewesen, das mich nicht zusammenbrechen ließ. Andererseits konnte aus dem Leuchten in diesem Fall schnell noch größere Dunkelheit werden, wenn ich meinen Dämon einmal nicht unter Kontrolle hatte und mein Bruder oder Aylea zu nahe bei mir waren...
„In gewisser Weise ja…“, entgegnete ich der Kattadame nach einigen Augenblicken, in denen ich meinen Gedanken hinterher gehangen war.
Meine Augen richteten sich auf meinen Bruder, der mich ungläubig, ja beinahe fassungslos anstarrte und ich nickte noch einmal zur Bekräftigung meiner Worte.
Es war schwer ihm das anzutun, er war in der Vergangenheit immer sehr einsichtig mir gegenüber gewesen, doch es war die einzige Möglichkeit um ihn dazu zu bringen mich alleine gehen zu lassen. Deshalb musste es wohl sein.
Aber mein Bruder durchbrach wieder einmal meine Pläne indem er einfach auf mich zuging und mir den Arm auf die Schulter legte. Es war ein stummes Versprechen, dass er mich nie alleine lassen würde und Arkaras hielt sein Wort ausnahmslos immer.
Ich stieß seine Hand unsanft von meiner Schulter.
„Ich. Will. Euch. Nicht. Dabei. Haben.“, ich betonte jedes Wort wie einen Satz. Sie klangen fast wie verbale Messerstiche, die meinen Bruder immer tiefer trafen.
Er wich zurück und sah mich einfach nur ungläubig an. Ich glaubte eine Träne in seinem Augenwinkel glitzern zu sehen, aber es konnte auch einfach eine Schneeflocke sein, die sich dort niedergelassen hatte und nun schmolz.
Aylea wandte den Blick kurz von mir ab und sah Arkaras in die Augen, sie schienen sich stumm zu beraten, dann schleckte sie ihm einmal kurz über die Wange und berührte ihn flüchtig mit der Vorderpfote.
„Wenn du das nicht willst, verstehen wir das…geh deiner eigenen Wege, gib uns aber Bescheid, wenn du dich doch dazu entschließt unsere Hilfe anzunehmen…“, meinte die Kattadame seelenruhig und etwas, das ich nicht erkennen konnte blitzte in ihren Augen auf.
Dann sprang sie von Arkaras´ Schulter und kam zu mir gelaufen. Sie strich zum Abschied um meine Beine herum, dann wandte sie sich ab und machte sich mit hängendem Schwanz auf den Weg in Richtung Stadt.
Konnte ich sicher darüber sein, dass das was ich da tat das richtige war? Ich vertrieb die letzten Beiden, die noch auf meiner Seite gestanden hatten und würde sie vielleicht nie wieder sehen…
Ich klappte den Mund auf um noch etwas zu sagen, aber ich fand nicht die richtigen Worte.
Mein Bruder sah mich noch immer an, aber sein Blick war mittlerweile nicht mehr erschrocken, sondern einfach nur traurig. Schließlich drehte er sich um und schickte sich an, seinem Seelenträger zu folgen.
Endlich konnte ich wieder Worte fassen und sagte so leise, dass ich bezweifelte, dass es die beiden gehört hatten: „Bitte, geht nicht…“
Mein Bruder hatte meine Worte anscheinend wirklich nicht wahrgenommen, aber Aylea blieb stehen und drehte sich um. Sie stellte den langen Schwanz freudig auf und ihre Augen blitzten schalkhaft auf. Sie gab einen seltsamen Laut von sich, den kein anderes Tier außer ihr verursachen konnte und lief auf mich zu, wobei ihr Schwanz in einem ungleichmäßigen Takt hin und her wiegte. Mein Bruder drehte sich verwundert zu mir um und zog fragend eine Augenbraue hoch, doch ich konnte ihm keine Erklärung abgeben, da ich in diesem Moment von Aylea ungestüme angesprungen wurde. Ich kam durch die Überraschung ins Straucheln und kippte beinahe rücklings in den Schnee.
Schließlich landete ich auf dem vereisten Boden der Brücke und konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. Die Kattadame schleckte mir einmal über das Gesicht und ließ dann von mir ab. Ich rappelte mich auf und sprang auf die Beine.
Mein Bruder sah uns beide immer noch verwirrt an und bevor ich ihm etwas sagen konnte berichtete Aylea ihm die erfreuliche Nachricht: „Er will doch, dass wir mitkommen!“
Ich glaubte zu sehen, dass die Katta Arkaras zuzwinkerte, doch meine Wahrnehmung spielte mir sicher nur wieder einmal einen Streich, was mit dieser neuen Sicht auch nicht verwunderlich war, da ich nun jede Bewegung überdeutlich erkannte.
Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht meines Bruders aus und er kam zu mir und Aylea gelaufen. Die Kattadame machte ihm Platz und mein Bruder musste sich offensichtlich zurückhalten mir nicht vor Freude um den Hals zu fallen. Sein Grinsen wurde noch breiter und die Lachfältchen breiteten sich wie Spinnennetze um seine Augen aus, ein Lächeln, das ich allerdings nicht erwidern konnte.
Ich war mir nicht sicher ob es gut war, was ich da tat. Wenn ich nun einmal meine Beherrschung verlor, das würde ich mir nie verzeihen können…
Doch auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, wenn ich alleine blieb, würde ich bald am Rand des Wahnsinns stehen.
Mein Bruder sah mich immer noch freudestrahlend an.
Schließlich schloss er mich in die Arme und drückte mich brüderlich an sich. Ich versteifte mich, ließ es jedoch einfach geschehen. Als ich fühlte wie mein Blick wieder zu seiner Halsschlagader wanderte, wandte ich mich geschickt wie eine Schlange aus der Umarmung. Um ihn jedoch nicht wieder zu vergraulen legte ich meine Hand auf seine Schulter und versuchte mich an einem Lächeln.
Mein Bruder gluckste los und stieß zwischen den Zähnen heraus: „Du siehst aus, als hättest du in eine saure Zitrone gebissen, Brüderchen…“
Sein Lachen begeisterte mich ganz und gar nicht. Außerdem wusste ich, dass er das nicht so lustig fand, wie er es darstellte, er wollte die Situation nur entschärfen. Ich schüttelte nur resigniert den Kopf und setzte wieder meine kalte Maske auf, die ich schon seit langem nicht mehr abgelegt hatte.
„Du solltest vielleicht wieder öfter lächeln…“, meinte Aylea, die ebenfalls nichts Lustiges daran zu finden schien. Ihre Stimme klang eher traurig. Sie hatte wohl meine Gedanken erraten. Wie schon so oft. Ich schüttelte nur erneut stoisch den Kopf und wandte mich zum Gehen ab, doch Aylea hielt mich mit einem klackenden Zungenschnalzen zurück.
„Wir haben ein Apartment hier in der Stadt, dort gehen wir jetzt erst mal hin“, meinte sie und sprang auf das Gemäuer des Geländers, das noch ganz war.
Arkaras ging zu der Kattadame hinüber und strich ihr flüchtig durchs Fell. Ich runzelte die Stirn und steckte die Hände in die Taschen meines Mantels, blieb aber da stehen, wo ich war.
Arkaras drehte den Kopf herum.
„Komm schon“, sagte er und machte eine auffordernde Kopfgeste.
Ich setzte mich langsam in Bewegung, blieb aber auf Abstand. Meine Schritte knirschten im Schnee und ich wirbelte mit meinen Schuhspitzen die weißen Flocken auf.
Als durch das geringer werdende Treiben die ersten Häuser in Sicht kamen lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich hasste Städte und vor allem die Menschen in den Städten. Meine Nackenhärchen stellten sich auf und meine Wahrnehmung schaltete auf Alarmbereitschaft um. In regelmäßigen Abständen wurde Adrenalin durch meinen Körper gepumpt. Ich erkannte nun alles mit doppelter Schärfe und meine Augen zuckten unaufhörlich hin und her, um alles im Blick zu behalten.
Schließlich standen wir im Schatten des ersten Hochhauses und ich kniff die Augen zusammen. Ich lauschte in den Lärm der Menschenwelt hinein und ein weiterer Schauer lief mir über den Rücken. Mein Puls beschleunigte sich automatisch, als mein Blick über den großen, grauen Betonblock zuckte. Die Fenster waren größtenteils verdreckt und das Gebäude wirkte verlassen. Nur hinter einer einzigen Scheibe bewegte sich etwas. Ich sah die Silhouette einer Frau hinter dem zugezogenen Vorhang, die in einem großen Lehnsessel saß und ein Buch in der Hand hielt. Ich sah wie die schemenhafte Frau das Buch weglegte und aufstand. Ich ließ den Blick auf das Fenster gerichtet.
Mein Bruder packte mich am Ellbogen und zog mich weiter. Aylea lief hinter mir her und strich ab und an an einer Häuserwand entlang. Sie konnte von den Menschen ja nicht gesehen werden.
Ich lief einfach nur schweigend neben meinem Bruder her und ließ meinen Blick immer wieder über die Gebäude der Stadt schweifen. Je weiter wir in Richtung des Stadtkernes kamen, desto dichter drängten sich die grauen Häuserriesen aneinander. Außerdem wurden die Gebäude immer höher und sahen alle gleich aus.
Wir waren beinahe bei dem Apartmentblock angekommen, in dem mein Bruder wohnte, als ein Mädchen mit gesenktem Kopf an uns vorbei eilte.
Ihre langen Haare, deren Farbe sich in den verschiedensten Braun- und Blondtönen abwechselte hingen ihr bis zur Taille hinunter und kräuselten sich auf ihrem Rücken in feinen Wellen. Die einzelnen Strähnchen reflektierten das kühle Morgenlicht und blitzten immer wieder golden auf. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, da sie den Blick nach unten gerichtet hielt und ihr die Haare wie ein Vorhang über die Schulter hingen. Sie war in schlichtes Schwarz gekleidet und hatte einen eher zierlichen Körperbau. Doch es war nicht ihr Aussehen, das meine Aufmerksamkeit erregte, sondern der Geruch, der ihr anhaftete. Sie roch beinahe nach Blut. Es war fast derselbe salzig, metallische Duft, doch etwas Künstliches trübte ihn. Als ich diese dünne Spur ignorierte roch ich den süßen Geruch von Blütenblättern, die im Herbstwind von den Blumen gerissen wurden und dann in einem seichten Gewässer zum liegen kamen. Außerdem mischte sich noch der fast unmerkliche Geruch von Eis in ihre Fährte. Sie war eine Vampirin…
(Ich wollte doch eig. gar nicht so viel schreiben... naja...)
Gast- Gast
Re: Schattenhaft - der dunkle Spiegel in mir
Ich bin schreibwüüütig!!!
1.Tag
Fremd
Es war Morgen. Kalte Sonnenstrahlen schienen durch mein Fenster und wurden von den Eiskristallen, die sich an der Scheibe abgesetzt hatten zurückgeworfen. Augenblicke lang sah ich einfach nur auf die Straße und die vorbeiziehende Menschenwelt, dann schlug ich die Decke zurück. Mein Blick streifte kurz den schmalen, metallicblauen Radiowecker, der auf meinem Nachttisch stand. Er blinkte unaufhörlich und genau in diesem Moment schaltete er sich ein. Es ertönte eine schwerfällige Bluesmelodie, die ich nicht kannte. Das Lied dauerte nur noch wenige Sekunden an, dann schaltete sich der Radiomoderator ein und verkündete die Nachrichten.
Ich hörte einige Augenblicke lang zu, ohne wirklich mitzubekommen, was der Sprecher genau sagte, dann tippte ich einmal kurz auf die Oberkante und der Radio verstummte. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und schlüpfte in meine violetten Filzpantoffel, die vor dem Bett standen. Schließlich erhob ich mich. Ich trat ans Fenster und schaute kurz nach draußen. Es herrschte bereits der Stress und viele Menschen, mit Aktenkoffern oder Handtaschen unter dem Arm rannten vorbei. Autos drängten sich durch die dünnen Gassen und wichen hupend den hastenden Fußgängern aus, die ihnen vor die Motorhaube liefen.
Nicht in allen Teilen der Stadt herrschte um diese Zeit schon so viel Betrieb wie hier, doch das Schülerwohnheim war im Zentrum der City aufgebaut und lag direkt an der Hauptverkehrsverbindung, die wie ein Bruchstrich die Stadt in der Mitte trennte. Mein Fenster jedoch lag an der ruhigeren Seite des Gebäudes und mein Blick viel nur auf einige Nebengässlein, die in das Büroviertel führten. Trotzdem war hier schon ziemlich viel los. Ich hatte kein Verständnis für diese Hast mit denen die Menschen durchs Leben rasten, sie genossen nichts.
Ich seufzte und löste meinen Blick vom Fenster. Ich ließ meine Augen kurz durch das Zimmer schweifen und sah mir mein neues Heim einmal im Tageslicht an. Der Boden war aus abgenutztem Parket und es hatten sich schon einige Spalten zwischen den einzelnen Holzbrettern gebildet, die den Blick auf grauen Beton freigaben. Es waren schon einige dunkel Flecken in dem sonst eher hellen Material, die wohl von verschiedenen Getränken herrührten, die die Mädchen, die vorher hier gewohnt hatten, wohl verschüttet haben mussten.
Das Bett, aus dem ich geradeeben aufgestanden war, war aus schlichtem Eichenholz gemacht und mit einem weißen Leintuch überzogen, das noch ganz frisch war, da ich mir gestern noch die Mühe gemacht hatte, es zu überziehen. Außerdem hatte ich die Decke und den Polster in eine schlicht cremefarbene Bettwäsche gestopft, die mir der Betreuer in die Hand gedrückt hatte, als ich mein Zimmer bezog. Der dünne Überwurf, der über der Matratze ausgebreitet gewesen war lag nun zerknittert neben dem Bett, wo ich ihn hingeworfen hatte, als ich das Leintuch überzogen hatte. Ähnlich unordentlich lag meine Decke da, die halb auf den Boden gerutscht war. Den Polster hatte ich, bevor ich eingeschlafen war in der Mitte zusammengelegt, um meinen Kopf höher zu betten, in diesem Zustand befand er sich immer noch. Das Bett stand an der Wand, gegenüber den vier Fenstern, vor denen die Schneeflocken tanzten. Zwischen der Fensterbank und der äußersten Bettkante war höchstens noch ein halber Meter Platz. Was aber nicht weiter störte, da hinter dem Bett nur noch mein Nachtkästchen auf dem der Radiowecker und ein Glas Wasser stand. Es war das einzige in diesem Raum von dem ich nicht sagen konnte aus welchem Holz es gemacht war, da es mit einer weißen Lackschicht angemalt worden war. In der einzigen Schublade, die einen schlichten Metallgriff hatte, befand sich auch nicht sonderlich viel. Nur eine Sirupflasche, die ich vor dem schlafen gehen noch dort hinein gelegt hatte. Mein restliches Zeug befand sich noch in meinem Koffer, der unausgepackt in der hintersten Ecke des Zimmers, neben dem Kleiderschrank, stand. Der Kasten war ebenfalls aus massivem Eichenholz und schien noch sehr gut erhalten. Mehr umfasste das Zimmer auch nicht, abgesehen von der Tür, die an derselben Wand war, wie der Schrank, nur genau in der anderen Ecke. Diese Tür führte in einen schmalen Flur an dem alle Zimmer der Mädchen lagen. Das Badezimmer, das zu meinem Gang gehörte lag drei Türen weiter, hatte mir der Aufseher gestern erklärt. Ich warf noch einen kurzen Blick auf die digitale Uhrenanzeige des Weckers, es war kurz nach sieben, und schlurfte dann zu meinem Koffer. Er war braun, und hatte an der Seite ein paar grüne, schnörkelige Muster. Ich öffnete mit einem schnellen Ruck am Reißverschluss das vorderste Fach und holte meinen Waschbeutel heraus. Meine Kleider, die ich mir am Vorabend abgestreift hatte lagen neben dem Bett am Boden und waren teilweise unter der herunterhängenden Decke begraben.
Ich ging hinüber und riss die Klamotten an mich, wobei ich das cremefarbene Federbett, wieder zurück auf die Matratze schleuderte. Sie landete jedoch auf der anderen Seite am Boden, da ich beim Werfen zu viel Schwung geholt hatte. Ich schnaubte entnervt auf und ließ das dumme Ding einfach liegen. Dann stapfte ich mit Waschbeutel und meinen Anziehsachen beladen durch die Tür hinaus, auf den Flur. Ich tastete an der Wand entlang nach dem Lichtschalter, da es im Gang keine Fenster gab und es somit noch stockdunkel war.
Endlich hatte ich die kleine weiße Vorrichtung gefunden und die Lampen gingen flackernd an. Es war nur spärliches Licht, doch ich konnte alles gut erkennen.
Den Flur säumten links und rechts sechs Türen, die alle aus demselben, alten Holz gemacht waren und sich abgesehen von Maserung alle aufs Haar glichen.
Ich machte mir nicht die Mühe leise zu sein, da ich die einzige war, die bereits hier war. Der Unterricht begann zwar heute schon, aber die meisten Schüler und Schülerinnen bezogen ihre Zimmer erst am Nachmittag. So hatte ich genug Zeit mich hier erst einmal zu Recht zu finden, bis ich meinen Mitbewohnerinnen vorgestellt wurde. Ich war neu. Es war der Anfang des zweiten Halbjahres und der erste Schultag nach den Ferien. Deshalb war ich auch alleine hier im Wohnheim.
Schließlich kam ich an der Badezimmertür an, die am anderen Ende des Ganges lag und lehnte mich kurz gegen die Wand.
Erst jetzt bemerkte ich, dass sie mit einer dreckigen, rosa Tapete überzogen war, die karamellfarbene Muster aufwies. Man konnte die Verzierung unter dem grauen Schmutzfilm nur schemenhaft ausmachen, doch es war klar, dass sie da waren.
Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss kurz die Augen. Ich hatte noch gut eine halbe Stunde Zeit, bis ich durch die Straßen in Richtung Schulgebäude aufbrechen musste. Ich fuhr mit der flachen Hand an der Tapete entlang und merkte, dass sie in einer seltsamen Weise viel rauer war, als eine normale Wand.
Nach ein paar Augenblicken entschied ich mich dazu, das kleine Badezimmer zu betreten. Ich öffnete die Tür und schob sie langsam auf, wobei sie über den gefliesten Boden schabte. Sie schien nicht richtig in den Angeln zu hängen. Ich zuckte mit den Schultern und betrat den Raum. Das kleine Waschzimmer war in ungewöhnlich gutem Zustand, wenn man es mit den anderen Zimmern verglich, die ich bis jetzt gesehen hatte. Ein Reihe rein weißer Waschbecken war an der Wand links von mir befestigt. Über allen hing ein ovaler Spiegel, der lediglich ein paar Fettflecken aufwies. An der gegenüberliegenden Wand waren einige Duschen, die jedoch alle durch mittelgroße Kabinen abgeschirmt waren. Ansonsten befand sich nicht viel in dem kleinen Raum, lediglich noch ein großer Wäschekorb, der noch vollkommen leer war. Die Toiletten waren ja hinter der Tür, neben dem Bad. Ich ging zu einem der Waschbecken, dem ersten genau neben mir und hängte meinen Waschbeutel auf den kleinen Hacken, der beim Spiegel befestigt war. Ich drehte das kalte Wasser auf und ließ es einige Momente einfach in das Becken strömen und in den Abfluss laufen, dann hielt ich meine zu einer Schale geformten Hände unter den Strahl und ließ das kühle Nass hineinfließen. Anschließend klatschte ich es mir ins Gesicht. Die Berührung mit dem Wasser tat gut und riss mich vollends aus der Müdigkeit. Ich beugte mich über das Becken und ließ mir den Strahl nun direkt über das Gesicht fließen. Dann richtete ich mich wieder auf und warf einen Blick in den Spiegel. Meine langen, bräunlich – blonden Haare waren jetzt am Ansatz nass und erschienen dadurch schokoladenfarben. Ich fasste alle Strähnchen am Rücken zu einem Bund zusammen und legte sie mir über die Schulter. Sie reichten mir bis knapp über die Taille. Als ich hinabblickte bemerkte ich, dass sie an den Spitzen mit etwas Dunklem verklebt waren. Mein Magen zog sich zusammen und ich hob den Blick sofort. Schnell hängte ich meine Haare in das Waschbecken und ließ das kalte Wasser, das ich noch nicht abgedreht hatte darüber laufen. Hastig löste ich mit den Fingern die verklebten Strähnen voneinander und wusch das Zeug aus. Es lief als rötliche Flüssigkeit in den Abfluss. Als ich mir sicher war, dass nichts mehr davon in meinen Haaren hing, strich ich sie mir wieder über den Rücken und warf im Spiegel einen Blick auf mein Gesicht. Ich wirkte munter, abgesehen von den dunklen Schatten, die sich unter meinen grünen Katzenaugen gebildet hatten. Keinerlei Spuren waren von meiner nächtlichen Jagd übrig geblieben. Ich bleckte kurz die Zähne und bemerkte noch Reste von demselben roten Zeug, das auch in meinen Haaren gewesen war, es war Blut, menschliches Blut. Rasch fuhr ich mit der Zunge über meine Eckzähne, um auch diese Spuren zu beseitigen.
Schließlich öffnete ich den Waschbeutel, der immer noch unberührt an dem Haken neben dem Spiegel hing und kramte meinen Kamm heraus. Eigentlich hätte mir eine warme Dusche gutgetan, doch ich war einfach nicht in Stimmung dazu. Ich hatte einfach keine Lust, mich wie ein normaler Mensch zu verhalten und meine Sorgen und den permanenten Blutgeruch einfach herunter zu waschen. Doch das ging nicht so leicht. Ich fuhr mir mit der Bürste ein paarmal flüchtig über die Haare, die sich an meinem Rücken in leichten Wellen kräuselten und löste die schlimmsten Knoten. Als ich halbwegs annehmbar aussah warf ich den Kamm achtlos zurück in den Waschbeutel.
Meine Klamotten hatte ich beim Betreten des Badezimmers einfach neben der Tür auf den Boden fallen lassen und hatte, seit ich sie neben dem Bett aufgehoben hatte keinen Blick darauf geworfen, doch als ich mich eigentlich anziehen sollte vielen mir die verkrusteten dunkelroten Flecken auf, die sich über mein T-Shirt und meine Jean zogen. Entnervt klemmte ich mir die Sachen unter den Arm und trat wieder hinaus in den Gang. Dann musste ich mir eben etwas Neues raussuchen.
Hastig eilte ich zurück in mein Zimmer. Sofort ging ich zu meinem Koffer, der immer noch halb geöffnet neben dem Kleiderschrank lehnte und holte die erstbeste Hose heraus die ich fand. Es war eine schlichte, schwarz gefärbte Jean. Als nächstes förderte ich einen roten Rollkragenpullover ans Licht. Die schmutzigen Sachen stopfte ich desinteressiert in das hinterste Fach des Koffers, dann zog ich alle Reißverschlüsse, die noch offen waren wieder zu. Meinen Waschbeutel hatte ich jetzt zwar im Badezimmer liegen lassen, aber das war mir herzlich egal.
Schnell schlüpfte ich aus meinem Nachthemd und zog mir die frischen Sachen an.
Als ich endlich fertig war drehte ich mich zur Tür, um den Raum zu verlassen. Doch ein Junge versperrte mir den Weg. Er lehnte im Türrahmen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seine schokoladenbraunen Haare, die ihm nicht ganz bis zur Schulter reichten hatte er im Nacken zusammengebunden und bis auf eine Strähne, die ihm in die Augen hing hatte er sie damit gebändigt. Er war groß gewachsen und überrage mich beinahe um zwei Köpfe, außerdem war seine Haut gebräunt und unter seinem T-Shirt zeichneten sich deutliche Bauchmuskeln ab. Seine eindringlichen kastanienbraunen Augen bohrten sich in mich hinein und trafen mich wie Messerstiche.
Ich stöhnte auf, als ich den jungen Mann sah und warf ihm einen bösen Blick zu, dann drehte ich mich wieder um und ging ans Fenster.
Ich starrte hinaus in die Schneeflocken und hoffte, dass er einfach wieder gehen würde, ich hatte keine Lust mich zu rechtfertigen.
Doch ich spürte, wie er einfach dort stehen blieb wo er war und mich von hinten her musterte. Meine Nackenhärchen stellten sich auf und ein Schauer nach dem anderen lief mir über den Rücken. Wie war er überhaupt hier reingekommen, er konnte doch nicht einfach durch die Tür marschiert sein, oder? Ich schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte mich wieder auf den fallenden Schnee. Ich hatte gar nicht darauf geachtet, wie er angezogen war, doch ich vermutete, dass es nicht wirklich der Jahreszeit entsprechend war. Ich konnte mir ein stilles Lächeln nicht verkneifen, doch ich wollte mich nicht umdrehen, um meine Annahme zu bestätigen. Dann würde ich auch unvermeidlich seinem brennenden, wütenden Blick begegnen, der mich im Nacken kitzelte.
Ich begann mit einer meiner Haarsträhnen zu spielen, die mir hinter dem Ohr hervor gerutscht war und drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.
Ich hörte wie der junge Mann anfing ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden zu tippen. Ignorierte es allerdings einfach und beobachtete weiter das Schneetreiben vor dem Fenster.
Auch wenn ich genau wusste, dass ich um diese Unterhaltung nicht herumkam, schließlich hatte ich in seinem Revier gewildert, wollte ich das Gespräch so lange wie möglich hinauszögern. Doch er schien scheinbar keine Lust auf Spielchen zu haben, da er im nächsten Moment neben mir stand und mich unsanft zu sich umdrehte.
„Ich habe keine Zeit für diesen Quatsch, Blutsaugerin!“, knurrte er mit forschem Unterton. Ich legte den Kopf schief und schaute ihn mit einem breiten Grinsen auf den Lippen an. „Wohin musst du denn so schnell? Wird dir in der Hundeschule Gehorsam beigebracht?“, fragte ich spöttisch und stieß seine Hand von meiner Schulter. Ich wusste genau, dass ich ihn damit unnötig provozierte, aber ich fand es immer wieder witzig einen Werwolf zur Weißglut zu bringen. Er tat meine abfällige Bemerkung mit einem wütenden Schnauben ab und sah so aus, als würde er mir gleich an die Kehle gehen. Ich kannte mich mit den Regeln in der Hundewelt ja nicht aus, aber war es nicht unklug, wenn der Alpha des Rudels so ein unverbesserlicher Hitzkopf war. Ich sah ihm in die Augen und schenkte ihm ein keckes Lächeln, dann ging ich einfach an ihm vorbei. Der Werwolf sah mir verdattert hinterher und ich verglich ihn in Gedanken mit einem Pudel bei Regen. Er wollte mir hinterher setzen, doch ich war schon aus der Tür und knallte sie ihm vor der Nase zu. Ich hörte ein empörtes Knurren und konnte mir ein leises Kichern nicht verkneifen.
Im Hinausrennen hatte ich mir meine Umhängetasche geschnappt, in der meine Hefte und Bücher waren. Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr, die ihm Gang hing. Ich hatte noch in etwa eine halbe Stunde, bis der Unterricht begann.
Gemächlich schritt ich den Gang entlang, da ich wusste, dass der Werwolf mir nicht folgen würde, er war vermutlich schon durch das kleine Fenster gegenüber meines Bettes verschwunden. Ich schaute zu meiner Tasche, sie war schlich schwarz und hatte an der Vorderseite wenige verschnörkelte Verzierungen in Blau, die ein bisschen aussahen, wie die Ranken einer Kletterpflanze. In ihrem Inneren herrschte Chaos, zettel waren zwischen Heften und Büchern eingeklemmt und irgendwo dazwischen befanden sich noch meine Stifte. Ich musste über mich selbst schmunzeln, ich war ein hoffnungsloser Chaot.
Ich hängte mir im Gehen die Tasche über die Schulter und strich meinen roten Pullover glatte, den ich mir vorhin schnell übergestreift hatte. Der Stoff fühlte sich weich an, es war Kaschmir. Ich eilte den Gang entlang. Alles um mich herum war still. Keine andere Schülerin war bereits hier im Wohnheim. Nur die Betreuer des Mädchenwohnheims und die Köche waren schon hier. Die saßen vermutlich alle gerade beim Frühstück. Ich öffnete die verglaste Tür, die die Schlafsäle von der Aula trennte und trat in die Vorhalle ein. Links ging ein Tor weg, das zur Küche führte, daneben lag das Esszimmer. Zum Speisesaal gab es allerdings keine Tür, es wurde lediglich durch eine Portalbogen von der Haupthalle getrennt. Die Aula war einfach in blassem Weiß gehalten und der Boden war gefliest. Der Speisesaal war nicht viel geschmackvoller eingerichtet. Alte Tische, auf denen sich schon so einige Schüler verewigt hatten und über die sich Flecken von allem möglichen zogen waren dicht an dicht aufgereiht und um sie herum drängten sich Stühle. Normalerweise würden dort auch die Schüler frühstücken, aber keiner war hier und ich aß nichts. Also ging ich die Treppen nach unten, die von der Aula in einer Spirale nach unten führten und in die Garderobe ausliefen. Gestern Abend hatte ich mir das ganze Haus angesehen, doch es sah bei Tageslicht noch schäbiger aus, als im schummrigen Licht der Glühlampen. Das Wohnheim brauchte dringend eine Renovierung, aber soweit ich wusste hatte die Akademie zu wenig Geld um sich diese zu leisten.
In der Garderobe nahm ich meinen schwarzen Mantel von einem Haken, der achtlos in die Wand geschlagen war und schlüpfte hinein, der Stoff schmiegte sich an meinen Körper und hüllte mich in Wärme, soweit ich das spüren konnte. Ich hätte die Jacke eigentlich gar nicht gebraucht, aber zu dieser Jahreszeit war es doch seltsam, wenn ich nur mit einem dünnen Pullover aus dem Haus ging. So waren die Menschen eben, verweichlichte Kreaturen, die nicht einen Tag in der Wildnis überleben könnten. Ich verdrehte die Augen und schob die schweren Torflügel auf, die auf die Straße hinaus führten. Sie waren aus robustem Eichenholz gefertigt und am Rahmen waren Schnitzereien eingearbeitet.
Auf der Straße herrschte bereits reger Betrieb. Viele Menschen eilten durch die Straßen alle auf dem Weg zur Arbeit. Autos fuhren beinahe im Schritttempo hintereinander her und wichen hupend den vielen Fußgängern aus. Immer noch vielen weiße Flocken vom Himmel und zuckerten die Häuser und den Gehsteig. Ich musste durch ein kleines Wohnviertel um zur Akademie zu gelangen, dort war vermutlich weniger los. Ich ging durch die Straßen und bog schließlich in eine kleine Gasse ein, die in die Fußgängerzone überlief, die unter anderem zum Gebäude führte, in dem die Schule sich befand.
Die Gasse war beinahe verlassen.
Meine Schritte halten von den schwärzlichen Wänden wieder, die verfallen wirkten und die nur noch einen schmalen Streifen Himmel freigaben, dieser war jedoch grau, von den schneeschweren Wolken, die sich am Horizont auftürmten und sich über den ganzen Himmel erstreckten. Ich sah am Ende des Ganges die Menschen hasten und hetzen, damit sie nichts von ihrem kurzen Leben verpassten. Wenn die Zeit einen unberührt ließ und die Jahrhunderte, ohne zu zeichnen, vorbeizogen, dann lernte man über diese Hektik zu lachen. Die Menschen, eilen nur in einem kurzen Moment unseres Lebens an uns vorbei, wir können sie fast nicht erfassen, doch trotzdem gehören wir, die magischen Wesen, in gewisser Weise noch zu ihnen, auch wenn wir sogar von diesen einfältigen Kreaturen anders wahrgenommen wurden als einer der ihren.
Ich trat wieder in das Licht der belebten Straße und zog den Kopf ein, als ein starker Windstoß durch die Gassen fegte. Ich senkte meinen Blick zu Boden und passte mich mit Leichtigkeit dem Tempo der Fußgänger an, jetzt hastete ich im selben Tempo wie sie meine Wege entlang, verlangsamte meine Schritte jedoch, als ich einen Geruch wahrnahm, der nicht hierher zu gehören schien. Ich suchte aus den Augenwinkeln die Richtung ab aus der mir das seltsame Aroma entgegengeschlagen war. Jetzt erkannte ich den Geruch, es war ein Syluner, aber seine Fährte war mit etwas anderem, übelriechenden vermischt, das ich nicht erkennen konnte.
Kurz nachdem ich erkannt hatte was ich wahrnahm sah ich zwei Gestalten, die auf mich zukamen. Es waren zwei magische Wesen, daran gab es keinen Zweifel, der größere der beiden, dessen dunkelblondes Haar ihm strähnig in die Stirn hing, war ein Syluner, auf seiner Schulter saß eine Katta die mich aus frechen Bernsteinaugen heraus ansah. Doch der Begleiter der beiden warf Rätsel auf. Sein Gesichtsausdruck war verschlossen, eine Maske aus Eis, die sich wie ein dunkler Schatten über seine Mimik legte. Seine Augen hatten die Farbe von bläulich schimmerndem Schnee, der langsam begann in der Sonne zu schmelzen, doch in sie war ein leichter Rotton gelegt, als würde sich in den reinen Schnee dunkles Blut einmischen. Diese Augen waren das Auffälligste in seinem Gesicht und sie schienen mich in einen Bann aus Verzweiflung und Angst zu ziehen, aus dessen dichten Netz ich mich nicht mehr befreien konnte.
Ich war stehen geblieben, mein Blick war auf den Fremden gerichtet. Immer noch schaute ich ihm in die eisblauen Augen. Auch er war stehen geblieben und erwiderte meinen Blick mit einer herablassenden Kühlheit, die mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Die Impulsivität seines Blickes hielt mich gefangen ich konnte meine Augen nicht abwenden. Schließlich kam der Syluner zu ihm und legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. Sie schienen Brüder zu sein. Wiederwillig nahm der Jüngere seinen Bann von mir und erst jetzt sah ich seine restliche Gestalt. Er war vermutlich einen halben Kopf größer als ich, und sein Körper war schlank gebaut, trotzdem sah ich, dass er über eine unglaubliche Kraft verfügte. Kraft, die mir Angst einjagte. Er war gefährlich, dass sah man an seiner Raubtierhaften Haltung und seinem beinahe zu ruhigen, kalten Gesichtsausdruck. Seine Haare waren heller als die des Syluners und wirkten durch die Nässe des Schnees beinahe genauso grau wie der Wolkenhimmel, der sich über den Horizont spannte. Über sein Gesicht tanzten unaufhörlich schwarze Schatten, die den Eindruck von Gefahr noch verstärkten. Seine Haut war blass, beinahe so blass wie meine, doch sie hatte einen durchscheinenden Schimmer, die ihn geisterhaft wirken ließ. Ein neuerlicher Schauer lief mir über den Rücken und hinterließ eine brennend – kalte Spur, als sich unsere Blicke noch einmal trafen. Dann wandte der Fremde sich ab.
Noch lange nachdem er gegangen war hing sein Bann noch in der Luft, und sein Geruch hing auch noch wie eine unheilvolle Wolke über mir, es war ein Geruch nach Blut und Tod, der mit dem süßen Geruch von frisch gefallenem Laub, das von Schnee und Eis bedeckt ist, vermischt war. Ein leichter Geruch, der jedoch umso schwerer in meinem Gedächtnis lag. Ich stand immer noch da, starrte in die Richtung in der der Fremde verschwunden war. Mein Herz hätte vermutlich zu rasen begonnen, wenn es noch schlagen würde, doch es hatte sich schon lange nicht mehr bewegt. Seit langer, langer Zeit.
Endlich konnte ich mich wieder bewegen ich wandte mich um und machte mich wieder auf den Weg zur Akademie. Doch meine Gedanken kreisten um den seltsamen Fremden. Wer war er? Was war er? Wie kam er hierher? Was war das für eine seltsame Kraft gewesen, die mich in ihren Bann gezogen hatte?
Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort wusste, und auf die ich auch niemals eine bekommen würde. Wie das Leben eines Menschen war dieser Fremde an mir vorbeigeeilt, nicht mehr als ein paar Augenblicke hatte sein Blick auf mir geruht und trotzdem hatte er einen bleibenden Kratzer in meiner Seele hinterlassen, der kalt war, jedoch trotzdem höllisch brannte.
Der magische Teil meines Geistes sagte mir, dass ich ihm folgen sollte, und ihm jeden Wunsch erfüllen sollte. Doch der Teil meines Denkens, der noch annähernd menschlich war gab mir klar zu verstehen, dass dieser Mann, eher Junge, nichts Gutes wollte, der menschliche Teil in mir hatte die Mordlust bemerkt, die in dem leichten Rot seiner Augen lag. Er war gefährlich, sogar für einen Vampir stellte er eine Gefahr da, das wusste ausnahmslos jede Faser meines Körpers.
Endlich stand ich vor dem Eingang der Akademie, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, dass ich dem Weg hierher gefolgt war. Ich schob die verglaste Tür auf. Warme Luft schlug mir entgegen, die den Geruch von vielen Menschen zu mir herantrug. Einen Moment lag blieb ich im Türrahmen stehen, dann betrat ich das Gebäude. Ich kam in eine Halle, in der sich einige Schüler tummelten, keiner schenkte mir große Beachtung, was mir nur Recht war. Die Aula war mit rostbraunen Fließen ausgelegt und die Wände waren weiß. Nur ein einziges Klassenzimmer grenzte direkt an den Eingangsbereich, alle anderen lagen Entweder in einem der oberen Stöcke, oder ein wenig entfernt von der Vorhalle, von der aus zwei Gänge wegführten, der eine nach links zu den Unterstufen- und der andere nach rechts zu den Oberstufenklassen. Die jüngeren Schüler waren auf drei Stöcke eines Turmes aufgeteilt, die Älteren waren in den zwei Stöcken des Hauptgebäudes untergebracht, bis auf einige Ausnahmen, die ebenfalls in dem kleinen Turm lagen. Meine Klasse lag im zweiten Stock, ganz am Ende des Gebäudes, soweit ich das dem Plan, den ich von der Betreuerin des Wohnheimes bekommen hatte, entnehmen konnte. Zuerst musste ich allerdings zu meinem Spind. Ich lief die Treppen, die gleich rechts neben der Eingangstür nach unten führten, hinunter und gelangte in eine Halle in der sich gelbe Kästen dicht an dicht drängten und eine Wand in der Mitte der Halle bildeten. Ich öffnete den Reißverschluss meiner Umhängetasche und kramte kurz darin herum, schließlich holte ich einen kleinen Schlüssel heraus an den ich ein selbstgeknüpftes, orange – blaues Band gehängt hatte. Die Farben passten nicht wirklich zusammen, aber ich mochte diesen seltsamen Kontrast, den die beiden Töne zueinander hatten.
Auf den Schlüssel hatte ich mit weißen Permanentmarker drauf geschrieben, welche Schranknummer ich hatte. 248. Ich suchte mit den Augen den Raum ab, bis ich eine Nummer fand, die in der Nähe meines Spindes liegen müsste. Ich ging auf die Kastenwand zu und fand auch sogleich meine Nummer. Ich hatte einen der unteren Schränke. Seufzend bückte ich mich und schloss ihn auf. Schnell schlüpfte ich aus meinem Mantel und warf ihn achtlos in den Innenraum des Kastens, danach schlüpfte ich aus meinen Winterstiefeln und schleuderte sie ebenfalls hinein. Erneut wühlte ich in meiner Tasche, deren Reißverschluss ich gar nicht zugemacht hatte. Ich förderte zwei schlichte, dunkelblaue Hausschuhe ans Licht und ließ sie vor mir zu Boden fallen. Schnell steckte ich meine Füße hinein und schloss den Spind wieder ab.
Den Schlüssel steckte ich in meine Hosentasche. Ich sah mir den ganzen Raum noch einmal genau an, doch ich entdeckte nichts Interessantes. Der Boden war mit den selben rostbraunen fließen ausgelegt, wie die Haupthalle und die Teile der Wände, die nicht von den hohen, gelben Schränken verdeckt waren, waren ebenfalls weiß, obwohl sie meist mit einem schmutzig grauen Film überzogen waren. Da war auch noch eine verglaste Tür, die vermutlich zur Turn
In einem Eck hing ein Fundsachenkorb, ansonsten befanden sich hier unten nur die Spinde.
Ich lief die Treppen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Meine Haare flogen mir um die Ohren und peitschten mir ins Gesicht, da ich sie nicht zusammengebunden hatte. Schließlich kam ich am obersten Treppenabsatz an und erhaschte einen schnellen Blick auf die Uhr, die auf der Wand über der Eingangstür hing. In zehn Minuten begann die Stunde. Ich war ausnahmsweise mal nicht zu spät! Ein Lächeln schlich sich in meine Mundwinkel und ich durchschritt die Aula. Trotzdem, dass noch einige Minuten blieben waren nicht viele Schüler in der Vorhalle. Ich bog in den Gang ein, der zu den Oberstufenklassen führte und lief erneut die Treppen nach oben. Diesmal nahm ich nicht zwei Stufen auf einmal.
Ich hatte die Begegnung mit dem fremden, magischen Wesen immer noch im Hinterkopf, doch ich versuchte nicht daran zu denken. Leider gelang es mir nicht ganz, da sein Aroma immer noch an mir hing und meinen Geruchssinn in regelmäßigen Abständen streifte. Ob dieser wunderbare Duft den Menschen auch auffiel? Vermutlich schon, selbst wenn er noch so dünn in der Luft hing, man musste ihn einfach bemerken.
Ich schüttelte die Gedanken an den seltsamen Fremden ab, als ich vor meinem Klassenzimmer ankam. Die Tür war weiß und geschlossen, doch ich hörte, dass sich die anderen Schüler noch unterhielten. Ich zögerte keine Sekunde, und versetzte der Tür einen Stoß, sodass sie aufschwang. Sie war nur angelehnt gewesen, wie ich festgestellte. Sticke Luft schlug mir ins Gesicht und ich konnte einzelne Gesprächsfetzen aufschnappen. Schnell ließ ich meinen Blick über die Schüler gleiten, wir waren achtzehn, wenn ich richtig lag. Die meisten standen in Grüppchen da und unterhielten sich lautstark.
Ein Lächeln umspielte meine Lippen, als ich den Raum betrat und den einzigen Platz ansteuerte, auf dem nicht allerlei Zeug verstreut war. Ich wusste nicht, wie viele Blicke mir folgten, und es interessierte mich auch nicht. Ich nahm meine Tasche von meiner Schulter und hängte sie über den Stuhl der für mich vorgesehen war. Sofort ließ ich mich auf die hölzerne Sitzgelegenheit sinken. Ich nahm mir die Zeit, den Raum genau anzuschauen. Er schien moderner als die Einrichtung im Mädchenwohnheim. Die Wände waren in einem leichten Aprikoton gestrichen und die Bänke waren noch einigermaßen neu. Zwar waren sie schon vollgeschmiert, aber ansonsten waren sie noch in gutem Zustand. Für die Stühle galt dasselbe. Mein Blick wanderte desinteressiert zum Fenster, wehrend immer noch ein leichtes Lächeln über meine Lippen tanzte. Ich sah graue Häuserblocks, die sich dicht an dicht drängten. Ein leises Seufzen entfuhr mir. Ich mochte die Stadt, doch dieses eintönige schwarz – weiß ödete mich mit der Zeit an. Doch auch die Wälder hier in der Nähe leuchteten nicht in mehr Farben, als die Straßen. Ich konnte mich noch daran erinnern, als das alles noch nicht so gewesen war, doch seit einigen Jahren hing ein dunkler Schatten über der Stadt, nicht nur über der Stadt, sondern scheinbar über allem. Alles hatte sich rasend schnell verändert und ich hegte Zweifel, dass jemals wieder ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke brechen würde. In meinem ganzen Leben hatte sich die Welt noch nie so kalt angefühlt, so eisig wie… der Blick des Fremden, der mich in seinen Bann gezogen hatte. Genau diese Kälte lag über allem.
Auf meinen Armen breitete sich Gänsehaut aus, ich konnte es deutlich unter meinem dicken Pullover spüren. Ich fröstelte, obwohl mir sonst nie zu kalt war.
„Ganz schön schlechtes Wetter, was?“, riss mich eine hohe Mädchenstimme aus meinen Gedanken. Ich wandte meinen Blick von den fallenden Schneeflocken ab, die mir nur noch verschwommen vor den Augen tanzten, schaute die, die mich angesprochen hatte allerdings nicht an. Ich hatte Angst, dass ich aussehen würde als müsste ich gleich in Tränen ausbrechen.
Ich nickte langsam und hielt meinen Blick auf die Tischplatte gesenkt.
„Normalerweise ist es hier milder…“, meinte das Mädchen, dass anscheinend nicht zu begreifen schien, dass sie sozusagen gegen eine Wand redete.
Nachdem ich sicher war, dass mein Gesichtsausdruck gelassen aussah hob ich den Blick und fasste das Mädchen, dass neben mir an der Tischplatte lehnte ins Auge. Sie hatte schulterlange Haare, die sie zu zwei lockeren Zöpfen zusammengebunden hatte, ihre Augen standen nahe zusammen und waren von dichten Wimpern umrahmt. Die Farbe ihrer Iris konnte ich nicht wirklich definieren. Sie war von einem seltsamen Blau – Grau. Ich konnte mich allerdings auch täuschen, da der dick aufgetragene Lidschatten ein seltsames Licht auf die Farbe warf. Ihr Mund war ebenso auffällig geschminkt und zu einem Lächeln verzogen. Sie hatte leicht gebräunte Haut was sich ein wenig mit ihrer Haarfarbe stach. Ich achtete nicht so auf ihre Kleidung, aber sie schienen in den neusten Modefarben gehalten zu sein, Violett und Weiß.
Ich erwiderte ihr Lächeln und sie strahlte zurück.
Sofort nahm sie das Gespräch wieder auf: „Erster Schultag heute… findest du dich schon zurecht?“
„Es geht schon, immerhin bin ich ja…“, ich warf einen Blick auf die Uhr, die Stunde hatte eigentlich schon vor zehn Minuten angefangen, „im Gegensatz zu unserem Lehrer hier.“
Ich erntete für diesen Einwand das glockenhelle Lachen des Mädchens. Als sie sich wieder gefangen hatte stellte sie sich vor: „Ich bin übrigens Angelina, und du?“
„Lucy, aber es ist mir lieber, wenn du mich Lu nennst“, entgegnete ich. Das Lächeln, das ich vorhin aufgesetzt hatte umspielte immer noch meine Mundwinkel. Angelina musterte mich eingehend und schien soweit zufrieden mit meinem Anblick.
„Es tut mir übrigens Leid für dich, dass du hier sitzen musst…“, meinte Ang wie nebenbei. Ich hob verwirrt eine Augenbraue und legte den Kopf leicht schief. Ich hatte nichts an dem Platz auszusetzten, er lag in etwa in der Mitte des Raumes und am äußersten Rand der Reihe. Ich erkannte keinen Nachteil, gegenüber den anderen Sitzplätzen. Aber vielleicht wusste ich auch etwas nicht.
Als Angelina meinen verwirrten Blick bemerkte machte sie erklärend eine Kopfbewegung zu dem zweiten Fenster im hinteren Teil des Raumes. Ich folgte ihrem Blick, der auf ein Mädchen gefallen war, das mit dem Rücken zu uns am Fenster stand und hinaus in die wirbelnden Schneeflocken starrte. Ich sah lediglich ihre orange – braunen Haare, die ihr in einem lockeren Pferdeschwanz bis über die Schultern reichten. Sie trug unauffällige Kleidung, eine schlichte Jeans und ein einfarbiges, blaues Shirt. Ich blickte wieder zu Angelina, die mich abwartend ansah. Ich legte die Stirn in Falten und erwiderte ihren Blick verständnislos. Die Blonde schien meine Verwirrtheit nicht zu bemerken und nahm den Faden des Gesprächs wieder auf: „Das ist Etana, du musst leider neben ihr sitzen“ Ich konnte nicht ganz glauben, dass Angelina mich wirklich bemitleidete, denn ein hämischer Zug hatte sich in ihre Mundwinkel geschlichen.
Ich beschloss einfach konkret nachzufragen, was an dem Mädchen nicht stimmte: „Was ist daran so schlimm?“
Ang machte eine wegwerfende Handbewegung und zwinkerte mir zu, als wollte sie sage, wirst schon sehen, dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Platz. Ich verdrehte die Augen und konnte mir ein leicht spöttisches Lächeln nicht verkneifen, als ich sah, wie seltsam sie ging. Sie stolzierte wie ein unbeholfenes Rehkitz, das die eleganten Bewegungen seiner Muttern nachahmen wollte.
Mein Blick schweifte erneut zur Uhr. Seit fünfzehn Minuten hatten wir schon Unterricht. Ich richtete meine Augen wieder auf das Mädchen, das dort alleine am Fenster stand. Niemand schien es auch nur zu wagen ihr in die Quere zu kommen, oder gar mit ihr zu sprechen. Ein spielerisches Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, das sich immer dann über meine Lippen zog, wenn ich eine Herausforderung entdeckte. Ich stand in einer schnellen Bewegung auf und schob den Stuhl wieder zum Tisch.
In gleichmäßigem Tempo durchschritt ich den Raum und stellte mich neben das rothaarige Mädchen am Fenster. Ein paar Augenblicke schwieg ich, dann meinte ich einfach gerade heraus: „Ich wurde gerade informiert, dass es eine schiere Qual sein soll neben dir zu sitzen, also dachte ich, ich überzeuge mich mal selbst…“
Ich zuckte mit den Schultern. Das Mädchen drehte mir den Kopf zu. Sie hatte ihre geschwungenen Augenbrauen verständnislos zusammengezogen, sodass sie wie zwei Blitze auf ihre hellbraunen Augen einschlugen. Ihre Iris war beinahe bernsteinfarben. Diese schöne Farbe war das erste, das mir in ihrem Gesicht auffiel, ansonsten schien sie aber ein durchschnittliches, sechzehnjähriges Mädchen zu sein. Sie hatte ein oval geschnittenes Gesicht und eine nur leicht bräunlich schimmernde Haut. Ihr hingen wirr ein paar Stirnfranzen ins Gesicht, ansonsten waren ihre Haare alle hinter die Ohren zurückgestrichen. Sie war in etwa gleich groß wie ich und hatte lange, kräftige Arme und Beine.
„Was willst du?“, fragte Etana ohne einen Anflug von Freundlichkeit in der Stimme. Ich hasste Leute, die von Grund auf schlecht gelaunt waren und dieses Mädchen schien zu dieser Sorte Menschen zu gehören. Ich versuchte dennoch meine gute Laune zu wahren, denn die wollte ich mir durch nichts verderben lassen. Deshalb lächelte ich sie überschwänglich an und meinte ohne einer Andeutung meiner Abneigung in der Stimme: „Ich wollte nur mal nett Hallo sagen und sehen, wer mich während der Schulzeit, abgesehen von den Lehrern foltern wird…“
Etana verdrehte die Augen und schnaubte abwertend, dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort wieder zum Fenster um.
Jetzt platze mir der Kragen, ich war ein freundlicher Mensch, aber so forsch abgewimmelt zu werden, wenn man lediglich nett sein wollte, das war einfach… unterstes Niveau!
Ich packte das Mädchen an der Schulter und drehte es unsanft zu mir herum.
„Jetzt hör mir mal zu!“, wetterte ich, „Ich will nur freundlich sein! Du kannst auch gerne sagen, wenn ich dir auf die Nerven gehe, aber trotzdem solltest du wenigsten…“ ich beendete den Satz in einem angedeuteten Knurren, das aber auf menschliche Verhältnisse zensiert war.
Zu meiner Verwunderung begann Etana laut zu lachen. Ich runzelte die Stirn und sah sie fragend an, doch das dunkle Lachen des Mädchens war einfach ansteckend und ich stimmte ein. Nachdem wir uns beide wieder beruhigt hatten, wischte ich mir eine Lachträne aus dem Augenwinkel, das Grinsen wollte nicht aus meinem Gesicht verschwinden.
„Was. War. Das?“, fragte ich, jedes Wort betonte ich wie einen Satz, aber nicht aus Wut, sondern aus bloßer Verwirrung über die plötzliche Stimmungsschwankung.
„So redet normalerweise niemand mit mir…“, entgegnete Etana und zuckte die Schultern, „Das find ich komisch…“
Ich lehnte mich neben ihr an die Fensterbank und schaute in die Klasse. Immer noch kein Lehrer, war das hier normal?
In diesem Moment roch ich einen Menschen und zog Etana schnell mit zu unseren Plätzen. Sie protestierte und funkelte mich böse an, doch kaum waren wir bei unserem Tisch betrat der Lehrer den Raum und begrüßte uns.
„Wieso hast du gewusst, dass er kommt?“, fragte Etana verwirrt und blinzelte in das helle Licht, das der Lehrer eben angeschaltet hatte.
„Nennen wir es Intuition…“
1.Tag
Fremd
Es war Morgen. Kalte Sonnenstrahlen schienen durch mein Fenster und wurden von den Eiskristallen, die sich an der Scheibe abgesetzt hatten zurückgeworfen. Augenblicke lang sah ich einfach nur auf die Straße und die vorbeiziehende Menschenwelt, dann schlug ich die Decke zurück. Mein Blick streifte kurz den schmalen, metallicblauen Radiowecker, der auf meinem Nachttisch stand. Er blinkte unaufhörlich und genau in diesem Moment schaltete er sich ein. Es ertönte eine schwerfällige Bluesmelodie, die ich nicht kannte. Das Lied dauerte nur noch wenige Sekunden an, dann schaltete sich der Radiomoderator ein und verkündete die Nachrichten.
Ich hörte einige Augenblicke lang zu, ohne wirklich mitzubekommen, was der Sprecher genau sagte, dann tippte ich einmal kurz auf die Oberkante und der Radio verstummte. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und schlüpfte in meine violetten Filzpantoffel, die vor dem Bett standen. Schließlich erhob ich mich. Ich trat ans Fenster und schaute kurz nach draußen. Es herrschte bereits der Stress und viele Menschen, mit Aktenkoffern oder Handtaschen unter dem Arm rannten vorbei. Autos drängten sich durch die dünnen Gassen und wichen hupend den hastenden Fußgängern aus, die ihnen vor die Motorhaube liefen.
Nicht in allen Teilen der Stadt herrschte um diese Zeit schon so viel Betrieb wie hier, doch das Schülerwohnheim war im Zentrum der City aufgebaut und lag direkt an der Hauptverkehrsverbindung, die wie ein Bruchstrich die Stadt in der Mitte trennte. Mein Fenster jedoch lag an der ruhigeren Seite des Gebäudes und mein Blick viel nur auf einige Nebengässlein, die in das Büroviertel führten. Trotzdem war hier schon ziemlich viel los. Ich hatte kein Verständnis für diese Hast mit denen die Menschen durchs Leben rasten, sie genossen nichts.
Ich seufzte und löste meinen Blick vom Fenster. Ich ließ meine Augen kurz durch das Zimmer schweifen und sah mir mein neues Heim einmal im Tageslicht an. Der Boden war aus abgenutztem Parket und es hatten sich schon einige Spalten zwischen den einzelnen Holzbrettern gebildet, die den Blick auf grauen Beton freigaben. Es waren schon einige dunkel Flecken in dem sonst eher hellen Material, die wohl von verschiedenen Getränken herrührten, die die Mädchen, die vorher hier gewohnt hatten, wohl verschüttet haben mussten.
Das Bett, aus dem ich geradeeben aufgestanden war, war aus schlichtem Eichenholz gemacht und mit einem weißen Leintuch überzogen, das noch ganz frisch war, da ich mir gestern noch die Mühe gemacht hatte, es zu überziehen. Außerdem hatte ich die Decke und den Polster in eine schlicht cremefarbene Bettwäsche gestopft, die mir der Betreuer in die Hand gedrückt hatte, als ich mein Zimmer bezog. Der dünne Überwurf, der über der Matratze ausgebreitet gewesen war lag nun zerknittert neben dem Bett, wo ich ihn hingeworfen hatte, als ich das Leintuch überzogen hatte. Ähnlich unordentlich lag meine Decke da, die halb auf den Boden gerutscht war. Den Polster hatte ich, bevor ich eingeschlafen war in der Mitte zusammengelegt, um meinen Kopf höher zu betten, in diesem Zustand befand er sich immer noch. Das Bett stand an der Wand, gegenüber den vier Fenstern, vor denen die Schneeflocken tanzten. Zwischen der Fensterbank und der äußersten Bettkante war höchstens noch ein halber Meter Platz. Was aber nicht weiter störte, da hinter dem Bett nur noch mein Nachtkästchen auf dem der Radiowecker und ein Glas Wasser stand. Es war das einzige in diesem Raum von dem ich nicht sagen konnte aus welchem Holz es gemacht war, da es mit einer weißen Lackschicht angemalt worden war. In der einzigen Schublade, die einen schlichten Metallgriff hatte, befand sich auch nicht sonderlich viel. Nur eine Sirupflasche, die ich vor dem schlafen gehen noch dort hinein gelegt hatte. Mein restliches Zeug befand sich noch in meinem Koffer, der unausgepackt in der hintersten Ecke des Zimmers, neben dem Kleiderschrank, stand. Der Kasten war ebenfalls aus massivem Eichenholz und schien noch sehr gut erhalten. Mehr umfasste das Zimmer auch nicht, abgesehen von der Tür, die an derselben Wand war, wie der Schrank, nur genau in der anderen Ecke. Diese Tür führte in einen schmalen Flur an dem alle Zimmer der Mädchen lagen. Das Badezimmer, das zu meinem Gang gehörte lag drei Türen weiter, hatte mir der Aufseher gestern erklärt. Ich warf noch einen kurzen Blick auf die digitale Uhrenanzeige des Weckers, es war kurz nach sieben, und schlurfte dann zu meinem Koffer. Er war braun, und hatte an der Seite ein paar grüne, schnörkelige Muster. Ich öffnete mit einem schnellen Ruck am Reißverschluss das vorderste Fach und holte meinen Waschbeutel heraus. Meine Kleider, die ich mir am Vorabend abgestreift hatte lagen neben dem Bett am Boden und waren teilweise unter der herunterhängenden Decke begraben.
Ich ging hinüber und riss die Klamotten an mich, wobei ich das cremefarbene Federbett, wieder zurück auf die Matratze schleuderte. Sie landete jedoch auf der anderen Seite am Boden, da ich beim Werfen zu viel Schwung geholt hatte. Ich schnaubte entnervt auf und ließ das dumme Ding einfach liegen. Dann stapfte ich mit Waschbeutel und meinen Anziehsachen beladen durch die Tür hinaus, auf den Flur. Ich tastete an der Wand entlang nach dem Lichtschalter, da es im Gang keine Fenster gab und es somit noch stockdunkel war.
Endlich hatte ich die kleine weiße Vorrichtung gefunden und die Lampen gingen flackernd an. Es war nur spärliches Licht, doch ich konnte alles gut erkennen.
Den Flur säumten links und rechts sechs Türen, die alle aus demselben, alten Holz gemacht waren und sich abgesehen von Maserung alle aufs Haar glichen.
Ich machte mir nicht die Mühe leise zu sein, da ich die einzige war, die bereits hier war. Der Unterricht begann zwar heute schon, aber die meisten Schüler und Schülerinnen bezogen ihre Zimmer erst am Nachmittag. So hatte ich genug Zeit mich hier erst einmal zu Recht zu finden, bis ich meinen Mitbewohnerinnen vorgestellt wurde. Ich war neu. Es war der Anfang des zweiten Halbjahres und der erste Schultag nach den Ferien. Deshalb war ich auch alleine hier im Wohnheim.
Schließlich kam ich an der Badezimmertür an, die am anderen Ende des Ganges lag und lehnte mich kurz gegen die Wand.
Erst jetzt bemerkte ich, dass sie mit einer dreckigen, rosa Tapete überzogen war, die karamellfarbene Muster aufwies. Man konnte die Verzierung unter dem grauen Schmutzfilm nur schemenhaft ausmachen, doch es war klar, dass sie da waren.
Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss kurz die Augen. Ich hatte noch gut eine halbe Stunde Zeit, bis ich durch die Straßen in Richtung Schulgebäude aufbrechen musste. Ich fuhr mit der flachen Hand an der Tapete entlang und merkte, dass sie in einer seltsamen Weise viel rauer war, als eine normale Wand.
Nach ein paar Augenblicken entschied ich mich dazu, das kleine Badezimmer zu betreten. Ich öffnete die Tür und schob sie langsam auf, wobei sie über den gefliesten Boden schabte. Sie schien nicht richtig in den Angeln zu hängen. Ich zuckte mit den Schultern und betrat den Raum. Das kleine Waschzimmer war in ungewöhnlich gutem Zustand, wenn man es mit den anderen Zimmern verglich, die ich bis jetzt gesehen hatte. Ein Reihe rein weißer Waschbecken war an der Wand links von mir befestigt. Über allen hing ein ovaler Spiegel, der lediglich ein paar Fettflecken aufwies. An der gegenüberliegenden Wand waren einige Duschen, die jedoch alle durch mittelgroße Kabinen abgeschirmt waren. Ansonsten befand sich nicht viel in dem kleinen Raum, lediglich noch ein großer Wäschekorb, der noch vollkommen leer war. Die Toiletten waren ja hinter der Tür, neben dem Bad. Ich ging zu einem der Waschbecken, dem ersten genau neben mir und hängte meinen Waschbeutel auf den kleinen Hacken, der beim Spiegel befestigt war. Ich drehte das kalte Wasser auf und ließ es einige Momente einfach in das Becken strömen und in den Abfluss laufen, dann hielt ich meine zu einer Schale geformten Hände unter den Strahl und ließ das kühle Nass hineinfließen. Anschließend klatschte ich es mir ins Gesicht. Die Berührung mit dem Wasser tat gut und riss mich vollends aus der Müdigkeit. Ich beugte mich über das Becken und ließ mir den Strahl nun direkt über das Gesicht fließen. Dann richtete ich mich wieder auf und warf einen Blick in den Spiegel. Meine langen, bräunlich – blonden Haare waren jetzt am Ansatz nass und erschienen dadurch schokoladenfarben. Ich fasste alle Strähnchen am Rücken zu einem Bund zusammen und legte sie mir über die Schulter. Sie reichten mir bis knapp über die Taille. Als ich hinabblickte bemerkte ich, dass sie an den Spitzen mit etwas Dunklem verklebt waren. Mein Magen zog sich zusammen und ich hob den Blick sofort. Schnell hängte ich meine Haare in das Waschbecken und ließ das kalte Wasser, das ich noch nicht abgedreht hatte darüber laufen. Hastig löste ich mit den Fingern die verklebten Strähnen voneinander und wusch das Zeug aus. Es lief als rötliche Flüssigkeit in den Abfluss. Als ich mir sicher war, dass nichts mehr davon in meinen Haaren hing, strich ich sie mir wieder über den Rücken und warf im Spiegel einen Blick auf mein Gesicht. Ich wirkte munter, abgesehen von den dunklen Schatten, die sich unter meinen grünen Katzenaugen gebildet hatten. Keinerlei Spuren waren von meiner nächtlichen Jagd übrig geblieben. Ich bleckte kurz die Zähne und bemerkte noch Reste von demselben roten Zeug, das auch in meinen Haaren gewesen war, es war Blut, menschliches Blut. Rasch fuhr ich mit der Zunge über meine Eckzähne, um auch diese Spuren zu beseitigen.
Schließlich öffnete ich den Waschbeutel, der immer noch unberührt an dem Haken neben dem Spiegel hing und kramte meinen Kamm heraus. Eigentlich hätte mir eine warme Dusche gutgetan, doch ich war einfach nicht in Stimmung dazu. Ich hatte einfach keine Lust, mich wie ein normaler Mensch zu verhalten und meine Sorgen und den permanenten Blutgeruch einfach herunter zu waschen. Doch das ging nicht so leicht. Ich fuhr mir mit der Bürste ein paarmal flüchtig über die Haare, die sich an meinem Rücken in leichten Wellen kräuselten und löste die schlimmsten Knoten. Als ich halbwegs annehmbar aussah warf ich den Kamm achtlos zurück in den Waschbeutel.
Meine Klamotten hatte ich beim Betreten des Badezimmers einfach neben der Tür auf den Boden fallen lassen und hatte, seit ich sie neben dem Bett aufgehoben hatte keinen Blick darauf geworfen, doch als ich mich eigentlich anziehen sollte vielen mir die verkrusteten dunkelroten Flecken auf, die sich über mein T-Shirt und meine Jean zogen. Entnervt klemmte ich mir die Sachen unter den Arm und trat wieder hinaus in den Gang. Dann musste ich mir eben etwas Neues raussuchen.
Hastig eilte ich zurück in mein Zimmer. Sofort ging ich zu meinem Koffer, der immer noch halb geöffnet neben dem Kleiderschrank lehnte und holte die erstbeste Hose heraus die ich fand. Es war eine schlichte, schwarz gefärbte Jean. Als nächstes förderte ich einen roten Rollkragenpullover ans Licht. Die schmutzigen Sachen stopfte ich desinteressiert in das hinterste Fach des Koffers, dann zog ich alle Reißverschlüsse, die noch offen waren wieder zu. Meinen Waschbeutel hatte ich jetzt zwar im Badezimmer liegen lassen, aber das war mir herzlich egal.
Schnell schlüpfte ich aus meinem Nachthemd und zog mir die frischen Sachen an.
Als ich endlich fertig war drehte ich mich zur Tür, um den Raum zu verlassen. Doch ein Junge versperrte mir den Weg. Er lehnte im Türrahmen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seine schokoladenbraunen Haare, die ihm nicht ganz bis zur Schulter reichten hatte er im Nacken zusammengebunden und bis auf eine Strähne, die ihm in die Augen hing hatte er sie damit gebändigt. Er war groß gewachsen und überrage mich beinahe um zwei Köpfe, außerdem war seine Haut gebräunt und unter seinem T-Shirt zeichneten sich deutliche Bauchmuskeln ab. Seine eindringlichen kastanienbraunen Augen bohrten sich in mich hinein und trafen mich wie Messerstiche.
Ich stöhnte auf, als ich den jungen Mann sah und warf ihm einen bösen Blick zu, dann drehte ich mich wieder um und ging ans Fenster.
Ich starrte hinaus in die Schneeflocken und hoffte, dass er einfach wieder gehen würde, ich hatte keine Lust mich zu rechtfertigen.
Doch ich spürte, wie er einfach dort stehen blieb wo er war und mich von hinten her musterte. Meine Nackenhärchen stellten sich auf und ein Schauer nach dem anderen lief mir über den Rücken. Wie war er überhaupt hier reingekommen, er konnte doch nicht einfach durch die Tür marschiert sein, oder? Ich schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte mich wieder auf den fallenden Schnee. Ich hatte gar nicht darauf geachtet, wie er angezogen war, doch ich vermutete, dass es nicht wirklich der Jahreszeit entsprechend war. Ich konnte mir ein stilles Lächeln nicht verkneifen, doch ich wollte mich nicht umdrehen, um meine Annahme zu bestätigen. Dann würde ich auch unvermeidlich seinem brennenden, wütenden Blick begegnen, der mich im Nacken kitzelte.
Ich begann mit einer meiner Haarsträhnen zu spielen, die mir hinter dem Ohr hervor gerutscht war und drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.
Ich hörte wie der junge Mann anfing ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden zu tippen. Ignorierte es allerdings einfach und beobachtete weiter das Schneetreiben vor dem Fenster.
Auch wenn ich genau wusste, dass ich um diese Unterhaltung nicht herumkam, schließlich hatte ich in seinem Revier gewildert, wollte ich das Gespräch so lange wie möglich hinauszögern. Doch er schien scheinbar keine Lust auf Spielchen zu haben, da er im nächsten Moment neben mir stand und mich unsanft zu sich umdrehte.
„Ich habe keine Zeit für diesen Quatsch, Blutsaugerin!“, knurrte er mit forschem Unterton. Ich legte den Kopf schief und schaute ihn mit einem breiten Grinsen auf den Lippen an. „Wohin musst du denn so schnell? Wird dir in der Hundeschule Gehorsam beigebracht?“, fragte ich spöttisch und stieß seine Hand von meiner Schulter. Ich wusste genau, dass ich ihn damit unnötig provozierte, aber ich fand es immer wieder witzig einen Werwolf zur Weißglut zu bringen. Er tat meine abfällige Bemerkung mit einem wütenden Schnauben ab und sah so aus, als würde er mir gleich an die Kehle gehen. Ich kannte mich mit den Regeln in der Hundewelt ja nicht aus, aber war es nicht unklug, wenn der Alpha des Rudels so ein unverbesserlicher Hitzkopf war. Ich sah ihm in die Augen und schenkte ihm ein keckes Lächeln, dann ging ich einfach an ihm vorbei. Der Werwolf sah mir verdattert hinterher und ich verglich ihn in Gedanken mit einem Pudel bei Regen. Er wollte mir hinterher setzen, doch ich war schon aus der Tür und knallte sie ihm vor der Nase zu. Ich hörte ein empörtes Knurren und konnte mir ein leises Kichern nicht verkneifen.
Im Hinausrennen hatte ich mir meine Umhängetasche geschnappt, in der meine Hefte und Bücher waren. Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr, die ihm Gang hing. Ich hatte noch in etwa eine halbe Stunde, bis der Unterricht begann.
Gemächlich schritt ich den Gang entlang, da ich wusste, dass der Werwolf mir nicht folgen würde, er war vermutlich schon durch das kleine Fenster gegenüber meines Bettes verschwunden. Ich schaute zu meiner Tasche, sie war schlich schwarz und hatte an der Vorderseite wenige verschnörkelte Verzierungen in Blau, die ein bisschen aussahen, wie die Ranken einer Kletterpflanze. In ihrem Inneren herrschte Chaos, zettel waren zwischen Heften und Büchern eingeklemmt und irgendwo dazwischen befanden sich noch meine Stifte. Ich musste über mich selbst schmunzeln, ich war ein hoffnungsloser Chaot.
Ich hängte mir im Gehen die Tasche über die Schulter und strich meinen roten Pullover glatte, den ich mir vorhin schnell übergestreift hatte. Der Stoff fühlte sich weich an, es war Kaschmir. Ich eilte den Gang entlang. Alles um mich herum war still. Keine andere Schülerin war bereits hier im Wohnheim. Nur die Betreuer des Mädchenwohnheims und die Köche waren schon hier. Die saßen vermutlich alle gerade beim Frühstück. Ich öffnete die verglaste Tür, die die Schlafsäle von der Aula trennte und trat in die Vorhalle ein. Links ging ein Tor weg, das zur Küche führte, daneben lag das Esszimmer. Zum Speisesaal gab es allerdings keine Tür, es wurde lediglich durch eine Portalbogen von der Haupthalle getrennt. Die Aula war einfach in blassem Weiß gehalten und der Boden war gefliest. Der Speisesaal war nicht viel geschmackvoller eingerichtet. Alte Tische, auf denen sich schon so einige Schüler verewigt hatten und über die sich Flecken von allem möglichen zogen waren dicht an dicht aufgereiht und um sie herum drängten sich Stühle. Normalerweise würden dort auch die Schüler frühstücken, aber keiner war hier und ich aß nichts. Also ging ich die Treppen nach unten, die von der Aula in einer Spirale nach unten führten und in die Garderobe ausliefen. Gestern Abend hatte ich mir das ganze Haus angesehen, doch es sah bei Tageslicht noch schäbiger aus, als im schummrigen Licht der Glühlampen. Das Wohnheim brauchte dringend eine Renovierung, aber soweit ich wusste hatte die Akademie zu wenig Geld um sich diese zu leisten.
In der Garderobe nahm ich meinen schwarzen Mantel von einem Haken, der achtlos in die Wand geschlagen war und schlüpfte hinein, der Stoff schmiegte sich an meinen Körper und hüllte mich in Wärme, soweit ich das spüren konnte. Ich hätte die Jacke eigentlich gar nicht gebraucht, aber zu dieser Jahreszeit war es doch seltsam, wenn ich nur mit einem dünnen Pullover aus dem Haus ging. So waren die Menschen eben, verweichlichte Kreaturen, die nicht einen Tag in der Wildnis überleben könnten. Ich verdrehte die Augen und schob die schweren Torflügel auf, die auf die Straße hinaus führten. Sie waren aus robustem Eichenholz gefertigt und am Rahmen waren Schnitzereien eingearbeitet.
Auf der Straße herrschte bereits reger Betrieb. Viele Menschen eilten durch die Straßen alle auf dem Weg zur Arbeit. Autos fuhren beinahe im Schritttempo hintereinander her und wichen hupend den vielen Fußgängern aus. Immer noch vielen weiße Flocken vom Himmel und zuckerten die Häuser und den Gehsteig. Ich musste durch ein kleines Wohnviertel um zur Akademie zu gelangen, dort war vermutlich weniger los. Ich ging durch die Straßen und bog schließlich in eine kleine Gasse ein, die in die Fußgängerzone überlief, die unter anderem zum Gebäude führte, in dem die Schule sich befand.
Die Gasse war beinahe verlassen.
Meine Schritte halten von den schwärzlichen Wänden wieder, die verfallen wirkten und die nur noch einen schmalen Streifen Himmel freigaben, dieser war jedoch grau, von den schneeschweren Wolken, die sich am Horizont auftürmten und sich über den ganzen Himmel erstreckten. Ich sah am Ende des Ganges die Menschen hasten und hetzen, damit sie nichts von ihrem kurzen Leben verpassten. Wenn die Zeit einen unberührt ließ und die Jahrhunderte, ohne zu zeichnen, vorbeizogen, dann lernte man über diese Hektik zu lachen. Die Menschen, eilen nur in einem kurzen Moment unseres Lebens an uns vorbei, wir können sie fast nicht erfassen, doch trotzdem gehören wir, die magischen Wesen, in gewisser Weise noch zu ihnen, auch wenn wir sogar von diesen einfältigen Kreaturen anders wahrgenommen wurden als einer der ihren.
Ich trat wieder in das Licht der belebten Straße und zog den Kopf ein, als ein starker Windstoß durch die Gassen fegte. Ich senkte meinen Blick zu Boden und passte mich mit Leichtigkeit dem Tempo der Fußgänger an, jetzt hastete ich im selben Tempo wie sie meine Wege entlang, verlangsamte meine Schritte jedoch, als ich einen Geruch wahrnahm, der nicht hierher zu gehören schien. Ich suchte aus den Augenwinkeln die Richtung ab aus der mir das seltsame Aroma entgegengeschlagen war. Jetzt erkannte ich den Geruch, es war ein Syluner, aber seine Fährte war mit etwas anderem, übelriechenden vermischt, das ich nicht erkennen konnte.
Kurz nachdem ich erkannt hatte was ich wahrnahm sah ich zwei Gestalten, die auf mich zukamen. Es waren zwei magische Wesen, daran gab es keinen Zweifel, der größere der beiden, dessen dunkelblondes Haar ihm strähnig in die Stirn hing, war ein Syluner, auf seiner Schulter saß eine Katta die mich aus frechen Bernsteinaugen heraus ansah. Doch der Begleiter der beiden warf Rätsel auf. Sein Gesichtsausdruck war verschlossen, eine Maske aus Eis, die sich wie ein dunkler Schatten über seine Mimik legte. Seine Augen hatten die Farbe von bläulich schimmerndem Schnee, der langsam begann in der Sonne zu schmelzen, doch in sie war ein leichter Rotton gelegt, als würde sich in den reinen Schnee dunkles Blut einmischen. Diese Augen waren das Auffälligste in seinem Gesicht und sie schienen mich in einen Bann aus Verzweiflung und Angst zu ziehen, aus dessen dichten Netz ich mich nicht mehr befreien konnte.
Ich war stehen geblieben, mein Blick war auf den Fremden gerichtet. Immer noch schaute ich ihm in die eisblauen Augen. Auch er war stehen geblieben und erwiderte meinen Blick mit einer herablassenden Kühlheit, die mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Die Impulsivität seines Blickes hielt mich gefangen ich konnte meine Augen nicht abwenden. Schließlich kam der Syluner zu ihm und legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. Sie schienen Brüder zu sein. Wiederwillig nahm der Jüngere seinen Bann von mir und erst jetzt sah ich seine restliche Gestalt. Er war vermutlich einen halben Kopf größer als ich, und sein Körper war schlank gebaut, trotzdem sah ich, dass er über eine unglaubliche Kraft verfügte. Kraft, die mir Angst einjagte. Er war gefährlich, dass sah man an seiner Raubtierhaften Haltung und seinem beinahe zu ruhigen, kalten Gesichtsausdruck. Seine Haare waren heller als die des Syluners und wirkten durch die Nässe des Schnees beinahe genauso grau wie der Wolkenhimmel, der sich über den Horizont spannte. Über sein Gesicht tanzten unaufhörlich schwarze Schatten, die den Eindruck von Gefahr noch verstärkten. Seine Haut war blass, beinahe so blass wie meine, doch sie hatte einen durchscheinenden Schimmer, die ihn geisterhaft wirken ließ. Ein neuerlicher Schauer lief mir über den Rücken und hinterließ eine brennend – kalte Spur, als sich unsere Blicke noch einmal trafen. Dann wandte der Fremde sich ab.
Noch lange nachdem er gegangen war hing sein Bann noch in der Luft, und sein Geruch hing auch noch wie eine unheilvolle Wolke über mir, es war ein Geruch nach Blut und Tod, der mit dem süßen Geruch von frisch gefallenem Laub, das von Schnee und Eis bedeckt ist, vermischt war. Ein leichter Geruch, der jedoch umso schwerer in meinem Gedächtnis lag. Ich stand immer noch da, starrte in die Richtung in der der Fremde verschwunden war. Mein Herz hätte vermutlich zu rasen begonnen, wenn es noch schlagen würde, doch es hatte sich schon lange nicht mehr bewegt. Seit langer, langer Zeit.
Endlich konnte ich mich wieder bewegen ich wandte mich um und machte mich wieder auf den Weg zur Akademie. Doch meine Gedanken kreisten um den seltsamen Fremden. Wer war er? Was war er? Wie kam er hierher? Was war das für eine seltsame Kraft gewesen, die mich in ihren Bann gezogen hatte?
Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort wusste, und auf die ich auch niemals eine bekommen würde. Wie das Leben eines Menschen war dieser Fremde an mir vorbeigeeilt, nicht mehr als ein paar Augenblicke hatte sein Blick auf mir geruht und trotzdem hatte er einen bleibenden Kratzer in meiner Seele hinterlassen, der kalt war, jedoch trotzdem höllisch brannte.
Der magische Teil meines Geistes sagte mir, dass ich ihm folgen sollte, und ihm jeden Wunsch erfüllen sollte. Doch der Teil meines Denkens, der noch annähernd menschlich war gab mir klar zu verstehen, dass dieser Mann, eher Junge, nichts Gutes wollte, der menschliche Teil in mir hatte die Mordlust bemerkt, die in dem leichten Rot seiner Augen lag. Er war gefährlich, sogar für einen Vampir stellte er eine Gefahr da, das wusste ausnahmslos jede Faser meines Körpers.
Endlich stand ich vor dem Eingang der Akademie, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, dass ich dem Weg hierher gefolgt war. Ich schob die verglaste Tür auf. Warme Luft schlug mir entgegen, die den Geruch von vielen Menschen zu mir herantrug. Einen Moment lag blieb ich im Türrahmen stehen, dann betrat ich das Gebäude. Ich kam in eine Halle, in der sich einige Schüler tummelten, keiner schenkte mir große Beachtung, was mir nur Recht war. Die Aula war mit rostbraunen Fließen ausgelegt und die Wände waren weiß. Nur ein einziges Klassenzimmer grenzte direkt an den Eingangsbereich, alle anderen lagen Entweder in einem der oberen Stöcke, oder ein wenig entfernt von der Vorhalle, von der aus zwei Gänge wegführten, der eine nach links zu den Unterstufen- und der andere nach rechts zu den Oberstufenklassen. Die jüngeren Schüler waren auf drei Stöcke eines Turmes aufgeteilt, die Älteren waren in den zwei Stöcken des Hauptgebäudes untergebracht, bis auf einige Ausnahmen, die ebenfalls in dem kleinen Turm lagen. Meine Klasse lag im zweiten Stock, ganz am Ende des Gebäudes, soweit ich das dem Plan, den ich von der Betreuerin des Wohnheimes bekommen hatte, entnehmen konnte. Zuerst musste ich allerdings zu meinem Spind. Ich lief die Treppen, die gleich rechts neben der Eingangstür nach unten führten, hinunter und gelangte in eine Halle in der sich gelbe Kästen dicht an dicht drängten und eine Wand in der Mitte der Halle bildeten. Ich öffnete den Reißverschluss meiner Umhängetasche und kramte kurz darin herum, schließlich holte ich einen kleinen Schlüssel heraus an den ich ein selbstgeknüpftes, orange – blaues Band gehängt hatte. Die Farben passten nicht wirklich zusammen, aber ich mochte diesen seltsamen Kontrast, den die beiden Töne zueinander hatten.
Auf den Schlüssel hatte ich mit weißen Permanentmarker drauf geschrieben, welche Schranknummer ich hatte. 248. Ich suchte mit den Augen den Raum ab, bis ich eine Nummer fand, die in der Nähe meines Spindes liegen müsste. Ich ging auf die Kastenwand zu und fand auch sogleich meine Nummer. Ich hatte einen der unteren Schränke. Seufzend bückte ich mich und schloss ihn auf. Schnell schlüpfte ich aus meinem Mantel und warf ihn achtlos in den Innenraum des Kastens, danach schlüpfte ich aus meinen Winterstiefeln und schleuderte sie ebenfalls hinein. Erneut wühlte ich in meiner Tasche, deren Reißverschluss ich gar nicht zugemacht hatte. Ich förderte zwei schlichte, dunkelblaue Hausschuhe ans Licht und ließ sie vor mir zu Boden fallen. Schnell steckte ich meine Füße hinein und schloss den Spind wieder ab.
Den Schlüssel steckte ich in meine Hosentasche. Ich sah mir den ganzen Raum noch einmal genau an, doch ich entdeckte nichts Interessantes. Der Boden war mit den selben rostbraunen fließen ausgelegt, wie die Haupthalle und die Teile der Wände, die nicht von den hohen, gelben Schränken verdeckt waren, waren ebenfalls weiß, obwohl sie meist mit einem schmutzig grauen Film überzogen waren. Da war auch noch eine verglaste Tür, die vermutlich zur Turn
In einem Eck hing ein Fundsachenkorb, ansonsten befanden sich hier unten nur die Spinde.
Ich lief die Treppen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Meine Haare flogen mir um die Ohren und peitschten mir ins Gesicht, da ich sie nicht zusammengebunden hatte. Schließlich kam ich am obersten Treppenabsatz an und erhaschte einen schnellen Blick auf die Uhr, die auf der Wand über der Eingangstür hing. In zehn Minuten begann die Stunde. Ich war ausnahmsweise mal nicht zu spät! Ein Lächeln schlich sich in meine Mundwinkel und ich durchschritt die Aula. Trotzdem, dass noch einige Minuten blieben waren nicht viele Schüler in der Vorhalle. Ich bog in den Gang ein, der zu den Oberstufenklassen führte und lief erneut die Treppen nach oben. Diesmal nahm ich nicht zwei Stufen auf einmal.
Ich hatte die Begegnung mit dem fremden, magischen Wesen immer noch im Hinterkopf, doch ich versuchte nicht daran zu denken. Leider gelang es mir nicht ganz, da sein Aroma immer noch an mir hing und meinen Geruchssinn in regelmäßigen Abständen streifte. Ob dieser wunderbare Duft den Menschen auch auffiel? Vermutlich schon, selbst wenn er noch so dünn in der Luft hing, man musste ihn einfach bemerken.
Ich schüttelte die Gedanken an den seltsamen Fremden ab, als ich vor meinem Klassenzimmer ankam. Die Tür war weiß und geschlossen, doch ich hörte, dass sich die anderen Schüler noch unterhielten. Ich zögerte keine Sekunde, und versetzte der Tür einen Stoß, sodass sie aufschwang. Sie war nur angelehnt gewesen, wie ich festgestellte. Sticke Luft schlug mir ins Gesicht und ich konnte einzelne Gesprächsfetzen aufschnappen. Schnell ließ ich meinen Blick über die Schüler gleiten, wir waren achtzehn, wenn ich richtig lag. Die meisten standen in Grüppchen da und unterhielten sich lautstark.
Ein Lächeln umspielte meine Lippen, als ich den Raum betrat und den einzigen Platz ansteuerte, auf dem nicht allerlei Zeug verstreut war. Ich wusste nicht, wie viele Blicke mir folgten, und es interessierte mich auch nicht. Ich nahm meine Tasche von meiner Schulter und hängte sie über den Stuhl der für mich vorgesehen war. Sofort ließ ich mich auf die hölzerne Sitzgelegenheit sinken. Ich nahm mir die Zeit, den Raum genau anzuschauen. Er schien moderner als die Einrichtung im Mädchenwohnheim. Die Wände waren in einem leichten Aprikoton gestrichen und die Bänke waren noch einigermaßen neu. Zwar waren sie schon vollgeschmiert, aber ansonsten waren sie noch in gutem Zustand. Für die Stühle galt dasselbe. Mein Blick wanderte desinteressiert zum Fenster, wehrend immer noch ein leichtes Lächeln über meine Lippen tanzte. Ich sah graue Häuserblocks, die sich dicht an dicht drängten. Ein leises Seufzen entfuhr mir. Ich mochte die Stadt, doch dieses eintönige schwarz – weiß ödete mich mit der Zeit an. Doch auch die Wälder hier in der Nähe leuchteten nicht in mehr Farben, als die Straßen. Ich konnte mich noch daran erinnern, als das alles noch nicht so gewesen war, doch seit einigen Jahren hing ein dunkler Schatten über der Stadt, nicht nur über der Stadt, sondern scheinbar über allem. Alles hatte sich rasend schnell verändert und ich hegte Zweifel, dass jemals wieder ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke brechen würde. In meinem ganzen Leben hatte sich die Welt noch nie so kalt angefühlt, so eisig wie… der Blick des Fremden, der mich in seinen Bann gezogen hatte. Genau diese Kälte lag über allem.
Auf meinen Armen breitete sich Gänsehaut aus, ich konnte es deutlich unter meinem dicken Pullover spüren. Ich fröstelte, obwohl mir sonst nie zu kalt war.
„Ganz schön schlechtes Wetter, was?“, riss mich eine hohe Mädchenstimme aus meinen Gedanken. Ich wandte meinen Blick von den fallenden Schneeflocken ab, die mir nur noch verschwommen vor den Augen tanzten, schaute die, die mich angesprochen hatte allerdings nicht an. Ich hatte Angst, dass ich aussehen würde als müsste ich gleich in Tränen ausbrechen.
Ich nickte langsam und hielt meinen Blick auf die Tischplatte gesenkt.
„Normalerweise ist es hier milder…“, meinte das Mädchen, dass anscheinend nicht zu begreifen schien, dass sie sozusagen gegen eine Wand redete.
Nachdem ich sicher war, dass mein Gesichtsausdruck gelassen aussah hob ich den Blick und fasste das Mädchen, dass neben mir an der Tischplatte lehnte ins Auge. Sie hatte schulterlange Haare, die sie zu zwei lockeren Zöpfen zusammengebunden hatte, ihre Augen standen nahe zusammen und waren von dichten Wimpern umrahmt. Die Farbe ihrer Iris konnte ich nicht wirklich definieren. Sie war von einem seltsamen Blau – Grau. Ich konnte mich allerdings auch täuschen, da der dick aufgetragene Lidschatten ein seltsames Licht auf die Farbe warf. Ihr Mund war ebenso auffällig geschminkt und zu einem Lächeln verzogen. Sie hatte leicht gebräunte Haut was sich ein wenig mit ihrer Haarfarbe stach. Ich achtete nicht so auf ihre Kleidung, aber sie schienen in den neusten Modefarben gehalten zu sein, Violett und Weiß.
Ich erwiderte ihr Lächeln und sie strahlte zurück.
Sofort nahm sie das Gespräch wieder auf: „Erster Schultag heute… findest du dich schon zurecht?“
„Es geht schon, immerhin bin ich ja…“, ich warf einen Blick auf die Uhr, die Stunde hatte eigentlich schon vor zehn Minuten angefangen, „im Gegensatz zu unserem Lehrer hier.“
Ich erntete für diesen Einwand das glockenhelle Lachen des Mädchens. Als sie sich wieder gefangen hatte stellte sie sich vor: „Ich bin übrigens Angelina, und du?“
„Lucy, aber es ist mir lieber, wenn du mich Lu nennst“, entgegnete ich. Das Lächeln, das ich vorhin aufgesetzt hatte umspielte immer noch meine Mundwinkel. Angelina musterte mich eingehend und schien soweit zufrieden mit meinem Anblick.
„Es tut mir übrigens Leid für dich, dass du hier sitzen musst…“, meinte Ang wie nebenbei. Ich hob verwirrt eine Augenbraue und legte den Kopf leicht schief. Ich hatte nichts an dem Platz auszusetzten, er lag in etwa in der Mitte des Raumes und am äußersten Rand der Reihe. Ich erkannte keinen Nachteil, gegenüber den anderen Sitzplätzen. Aber vielleicht wusste ich auch etwas nicht.
Als Angelina meinen verwirrten Blick bemerkte machte sie erklärend eine Kopfbewegung zu dem zweiten Fenster im hinteren Teil des Raumes. Ich folgte ihrem Blick, der auf ein Mädchen gefallen war, das mit dem Rücken zu uns am Fenster stand und hinaus in die wirbelnden Schneeflocken starrte. Ich sah lediglich ihre orange – braunen Haare, die ihr in einem lockeren Pferdeschwanz bis über die Schultern reichten. Sie trug unauffällige Kleidung, eine schlichte Jeans und ein einfarbiges, blaues Shirt. Ich blickte wieder zu Angelina, die mich abwartend ansah. Ich legte die Stirn in Falten und erwiderte ihren Blick verständnislos. Die Blonde schien meine Verwirrtheit nicht zu bemerken und nahm den Faden des Gesprächs wieder auf: „Das ist Etana, du musst leider neben ihr sitzen“ Ich konnte nicht ganz glauben, dass Angelina mich wirklich bemitleidete, denn ein hämischer Zug hatte sich in ihre Mundwinkel geschlichen.
Ich beschloss einfach konkret nachzufragen, was an dem Mädchen nicht stimmte: „Was ist daran so schlimm?“
Ang machte eine wegwerfende Handbewegung und zwinkerte mir zu, als wollte sie sage, wirst schon sehen, dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Platz. Ich verdrehte die Augen und konnte mir ein leicht spöttisches Lächeln nicht verkneifen, als ich sah, wie seltsam sie ging. Sie stolzierte wie ein unbeholfenes Rehkitz, das die eleganten Bewegungen seiner Muttern nachahmen wollte.
Mein Blick schweifte erneut zur Uhr. Seit fünfzehn Minuten hatten wir schon Unterricht. Ich richtete meine Augen wieder auf das Mädchen, das dort alleine am Fenster stand. Niemand schien es auch nur zu wagen ihr in die Quere zu kommen, oder gar mit ihr zu sprechen. Ein spielerisches Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, das sich immer dann über meine Lippen zog, wenn ich eine Herausforderung entdeckte. Ich stand in einer schnellen Bewegung auf und schob den Stuhl wieder zum Tisch.
In gleichmäßigem Tempo durchschritt ich den Raum und stellte mich neben das rothaarige Mädchen am Fenster. Ein paar Augenblicke schwieg ich, dann meinte ich einfach gerade heraus: „Ich wurde gerade informiert, dass es eine schiere Qual sein soll neben dir zu sitzen, also dachte ich, ich überzeuge mich mal selbst…“
Ich zuckte mit den Schultern. Das Mädchen drehte mir den Kopf zu. Sie hatte ihre geschwungenen Augenbrauen verständnislos zusammengezogen, sodass sie wie zwei Blitze auf ihre hellbraunen Augen einschlugen. Ihre Iris war beinahe bernsteinfarben. Diese schöne Farbe war das erste, das mir in ihrem Gesicht auffiel, ansonsten schien sie aber ein durchschnittliches, sechzehnjähriges Mädchen zu sein. Sie hatte ein oval geschnittenes Gesicht und eine nur leicht bräunlich schimmernde Haut. Ihr hingen wirr ein paar Stirnfranzen ins Gesicht, ansonsten waren ihre Haare alle hinter die Ohren zurückgestrichen. Sie war in etwa gleich groß wie ich und hatte lange, kräftige Arme und Beine.
„Was willst du?“, fragte Etana ohne einen Anflug von Freundlichkeit in der Stimme. Ich hasste Leute, die von Grund auf schlecht gelaunt waren und dieses Mädchen schien zu dieser Sorte Menschen zu gehören. Ich versuchte dennoch meine gute Laune zu wahren, denn die wollte ich mir durch nichts verderben lassen. Deshalb lächelte ich sie überschwänglich an und meinte ohne einer Andeutung meiner Abneigung in der Stimme: „Ich wollte nur mal nett Hallo sagen und sehen, wer mich während der Schulzeit, abgesehen von den Lehrern foltern wird…“
Etana verdrehte die Augen und schnaubte abwertend, dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort wieder zum Fenster um.
Jetzt platze mir der Kragen, ich war ein freundlicher Mensch, aber so forsch abgewimmelt zu werden, wenn man lediglich nett sein wollte, das war einfach… unterstes Niveau!
Ich packte das Mädchen an der Schulter und drehte es unsanft zu mir herum.
„Jetzt hör mir mal zu!“, wetterte ich, „Ich will nur freundlich sein! Du kannst auch gerne sagen, wenn ich dir auf die Nerven gehe, aber trotzdem solltest du wenigsten…“ ich beendete den Satz in einem angedeuteten Knurren, das aber auf menschliche Verhältnisse zensiert war.
Zu meiner Verwunderung begann Etana laut zu lachen. Ich runzelte die Stirn und sah sie fragend an, doch das dunkle Lachen des Mädchens war einfach ansteckend und ich stimmte ein. Nachdem wir uns beide wieder beruhigt hatten, wischte ich mir eine Lachträne aus dem Augenwinkel, das Grinsen wollte nicht aus meinem Gesicht verschwinden.
„Was. War. Das?“, fragte ich, jedes Wort betonte ich wie einen Satz, aber nicht aus Wut, sondern aus bloßer Verwirrung über die plötzliche Stimmungsschwankung.
„So redet normalerweise niemand mit mir…“, entgegnete Etana und zuckte die Schultern, „Das find ich komisch…“
Ich lehnte mich neben ihr an die Fensterbank und schaute in die Klasse. Immer noch kein Lehrer, war das hier normal?
In diesem Moment roch ich einen Menschen und zog Etana schnell mit zu unseren Plätzen. Sie protestierte und funkelte mich böse an, doch kaum waren wir bei unserem Tisch betrat der Lehrer den Raum und begrüßte uns.
„Wieso hast du gewusst, dass er kommt?“, fragte Etana verwirrt und blinzelte in das helle Licht, das der Lehrer eben angeschaltet hatte.
„Nennen wir es Intuition…“
Gast- Gast
Re: Schattenhaft - der dunkle Spiegel in mir
Ja, ich weiß 2 Kapitel an einem Tag ist etwas heftig, kann mich aber einfach nicht mehr vom Schreiben losreißen....
2.Nacht
Bernsteinblut
Alles war rot. Langsam wurden meine Gedanken wieder klar, der undurchdringliche Schleier verschwand aus meinem Geist. Was war geschehen? Ich sah Blut… viel zu viel Blut… Ich konnte mich kaum noch erinnern, was zuvor geschehen war. Ich schüttelte ruckartig den Kopf.
Ich rannte. Gegen den Wind. Weg. Weg von diesem Geruch, der den Dämon hervor gerufen hatte. Die Mauern der alten Gassen schienen auf mich einzustürzen, während ich durch sie hindurch hetzte. Die Luft die ich einatmete gelangte nicht mehr in meine Lungen. Sie schnürte mir die Kehle zu, versetzte mir brennende Stiche. Ich drohte zu ersticken. Meine Sinne wurden von einem unvorstellbaren Brennen überschattet. Alles färbte sich in ein stechendes Rot. Dann stürzte ich in die tiefe Dunkelheit.
Nun stand ich wieder in dunkles Rot gehüllt da. Die Wände der schmalen Gasse waren mit Blut überzogen, dessen salziger Geruch schwer in der Luft lag. Ich senkte den Blick zu Boden, wollte am liebsten vergessen, was ich gesehen hatte, wollte nie wieder aufblicken und wollte nicht erfahren, von wem das Blut stammte.
Doch als ich die Augen nach unten richtete sah ich, dass meine Hände mit demselben Blut beschmiert waren. Es war menschliches Blut. Ich schmeckte es auf meinen Lippen. Spürte es in meiner Kehle. Ich wandte mich ab. Ich musste sofort von hier Weg. Kein einziges Mal würdigte ich die Gasse noch eines Blickes, wollte einfach fortlaufen.
Meine Schritte hallten laut von den Wänden wieder und klangen noch lange nachdem sie erstorben waren.
Langsam breitete sich eine eisige Käte in meinem Herzen aus, die alles andere verschlang. Eine harte Maske legte sich über mein Gesicht, verdeckte jeglichen Ausdruck in meinen Augen. Alles um mich herum erstarb in Eis.
Mein Unterbewusstsein sagte mir, dass ich Schuld empfinden sollte und Ekel vor dem was ich getan hatte, oder zumindest das Verlangen nach dem Blut. Doch da war kein Gefühl. Nur ein tiefes Loch. Kein Herz, keine Seele. Nur eine dunkle Kluft, deren schwarze Wände links und rechts von mir wie hohe Wellen einzubrechen schienen.
Eingefroren. Kalt. Gefühllos. Ohne jede Emotion. Und irgendwie gefiel mir diese Leere. Ich wusste nicht wieso, aber es war angenehm. Angenehm keinen Schmerz mehr zu fühlen, der mich ständig begleitet hatte, seitdem Sayeron gestorben war und auch keinen Hass mehr auf den Dämon und auf mich selbst… vor allem auf mich selbst. Ein selbstgefälliges Zucken tanzte um meine Mundwinkel, wurde aber nicht zu einem Lächeln. Es wurde von der düsteren Kälte überschattet.
Ich setzte meine Schritte fort, ignorierte es einfach, dass meine ganze Seite mit einer getrockneten Schicht aus Blut überzogen war und stapfte aus dem verlassenen Stadtviertel hinaus, in Richtung Wald. Ich wusste nicht, ob ich der Stadt wohl je wieder mein Gesicht zuwenden würde, ob ich je wieder zurückkommen würde. Arkaras würde mich suchen… gewiss würde er das tun… aber ich war schneller als er. Es würde mir außerdem nichts ausmachen, wenn er mir folgen würde. Wenn es darauf ankam, konnte ich ihn ja töten. Der Gedanke erschreckte mich nicht. Ich wusste nicht einmal ob das mein Einfall gewesen war, oder der des Dämons. Es war mir auch egal.
Kurz hielt ich an, als ich zu der Brücke kam, an der Arkaras und ich noch heute am Morgen beschlossen hatten, dass wir zusammen blieben. Das alles kam mir so fern vor. Hatte ich nicht noch gelacht, als Aylea mich stürmisch angesprungen hatte? Es kam mir so banal vor, so unnütz. Mir war doch von vornherein klar gewesen, dass ich wieder gehen würde.
Ich schüttelte verächtlich den Kopf darüber, dass ich so etwas wie Gefühle gezeigt hatte, und stapfte weiter.
Lange war es still um mich herum. Kein Vogel wagte es in meiner Gegenwart einen Ton von sich zu geben, die Mäuse hatten ihren Weg unter der Erde abgebrochen und verursachten nicht den kleinsten Laut. Die Tiere, die es gewagt hätten sich noch zu rühren waren nicht hier, oder hielten Winterschlaf. Die Welt lag unter einer Decke, die alles ruhiger werden ließ und gleichzeitig abkühlte. Doch diese Kälte war nichts verglichen mit dem Eis, das mein Innerstes einhüllte.
Plötzlich drang von der Ferne Hundegekläff an mein Ohr. Scharfe, kurze Laute, die mit Furcht und Wachsamkeit durchzogen waren. Schatten, Tod!, bellte der Hund, der sein Herrchen mit seinem Gefiepe dazu bringen wollte nicht in meine Richtung zu gehen. Seine Stimme überschlug sich, da der Mensch, der ihn begleitete nicht umdrehen wollte.
Schatten, Tod!, warnte er immer wieder. Ein kaltes Schmunzeln schlich sich in meine Mundwinkel. Sogar ein kleiner, unwissender Hund erkannte, dass von mir eine unbegreifliche Gefahr ausging, nur die Menschen, jene Wesen, die als meine Beute dienten merkten von alledem nichts. Sie wurden von der Fassade getäuscht, um die ich mich nicht einmal bemühte. Es war mir egal, ob man herausfand, was ich war, jeder, der das tun würde, hätte nicht mehr länger als ein paar Augenblicke zu leben.
Das Kläffen kam näher. Schatten, Tod!, halten die unablässigen Warnungen des Hundes durch den Wald. Doch er und sein Mensch hielten beständig auf mich zu.
Meine Lippen verzogen sich zu einem überlegenen Grinsen und ich sprang auf einen der blattlosen Bäume, die den Waldrand bildeten.
Ich schlüpfte aus meinem blutüberströmten Mantel. Nun kauerte ich nur mehr im T-Shirt da. Ich hängte den Mantel achtlos über einen kleinen Ast und richtete den Blick wieder in die Richtung, aus der das Gekläff immer noch unablässig drang.
Einige Momente später schoss ein kleiner, kastanienbrauner Hund aus dem Unterholz. Sein zotteliges Fell war nass von den Schneeflocken, die auf seinem dichten Pelz lagen und langsam schmolzen. Sie gruben sich in feinen Rinnsalen unter seine langen Haare. Er streckte die Schnauze witternd in die Luft und seine tiefbraunen Augen schweiften suchend umher. Erneut fiepte er eine gehetzte Warnung, als ein Menschenmädchen aus den Büschen trat. Sie strich dem kleinen Hund kurz über den Kopf. Damit versuchte die Kleine, den immer noch bellenden Hund zu beruhigen, was ihr nicht sehr gut gelang. Sie trug eine gräuliche Winterjacke und hatte den oberen Teil ihre rötlich – braunen Haare unter einer blauen Mütze verborgen.
Ihre Augen, die sich nun ebenfalls suchend umblickten, da der Hund nicht aufhörte zu kläffen, hatten die Farbe von flüssiger Schokolade, aber das lag nur an dem schummrig – grauen Licht. Normalerweise wären sie wohl heller, vielleicht sogar bernsteinfarben. Ich hatte sie mir nur mit einem kurzen Blick angesehen. Es war mir eigentlich absolut gleichgültig, wen ich da vor mir hatte.
Ich sprang mit einem schnellen Satz vom Baum und landete in lockerer Kauerhaltung vor dem Mädchen. Ich richtete mich in einer fließenden Bewegung auf. Der Hund begann erneut zu bellen und zog die Lefzen so weit nach oben, dass ich sein Zahnfleisch sehen konnte. Ein mickriges Knurren drang aus seiner Kehle und seine Fangzähne blitzten auf. Ich schüttelte nur herablassend den Kopf.
Nun schaltete sich das Menschenmädchen ein, sodass ich meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Sie schnaubte verächtlich und streifte mich mit einem abgeneigten Blick.
„Wurde dir nicht beigebracht, dass man grüßt, wenn man jemandem in den Weg springt?“, fragte sie mit unüberhörbarem Sarkasmus in der Stimme. Ich zog in gespielter Belustigung die Augenbraue hoch und meine Lippen zuckten leicht nach oben. Die Emotionen waren nicht echt, ich hatte keine Gefühle.
„Hallo…“, meinte ich wobei mein Ton am Ende verächtlich nach unten schwang. Keine Regung ging durch meinen Geist als das Mädchen ein kaltes Funkeln in den Augen bekam.
„Würdest du mir jetzt verraten, was das soll? Hast du nichts Besseres zu tun, als irgendwelchen fremden Leuten in die Quere zu kommen?“, setzte sie mit scharfem Unterton nach. Ich konnte mir ein hartes Auflachen nicht verkneifen. Die Augenbrauen des Mädchens zogen sich zusammen.
„Was ist so lustig?!“, herrschte sie mich an und suchte meinen Blick, den ich mit der Kälte des Todes entgegnete. Sie zuckte nicht zurück, aber ich konnte die Überraschung sehen, die sich nur für den Bruchteil einer Sekunde in ihren Augen spiegelte. Dann funkelte sie mich wieder wütend an. Sie schien es nicht leiden zu können, wenn man von ihr Notiz nahm, oder ihr gar in die Quere kam.
„Deine Art…“, entgegnete ich tonlos. Meine Stimme war immer noch leer. Das Mädchen stieß ein unfreundliches Zischen aus.
„Was meinst du damit?!“, hakte sie mit hartem Tonfall nach, der bei einem normalen Menschen wohl keinen Wiederspruch zugelassen hätte.
Ich zuckte nur desinteressiert mit den Schultern und wandte mich ab. Mein Blick streifte noch einmal kurz den Köter, der mich immer noch mit gebleckten Zähnen, jedoch mit eingezogener Rute beobachtete. Ich überlegte einen Augenblick, ob ich dem Köter einen Tritt versetzten sollte, ließ es dann aber bleiben, da ich keine sonderliche Lust hatte mir das Geschrei des Menschenmädchens anzuhören, wenn ich ihrem geliebten Kläffer etwas tat. Das Mädchen packte mich unsanft am Arm. Im nächsten Augenblick stand ich hinter ihr und hielt ihr den Mund zu, sodass sie nicht schreien konnte.
„Jetzt hörst du mir einmal genau zu, Kleine…“, setzte ich an und strich ihr dabei mit der freien Hand über die Kehle und meine Finger wanderten an ihrer Halsschlagader nach oben. Ich spürte, wie sie trocken schluckte und langsam nickte. Sie war in keiner Weise so verängstigt, wie die anderen, die ich bis jetzt zwischen meine Klauen bekommen hatte. Das gefiel mir.
„Du solltest aufpassen, welchen Ton du anschlägst… diese Frechheiten könnten dich einiges kosten…“, führte ich meinen Satz fort und fuhr erneut die Konturen ihres Halses nach. Sie trat nach mir. Ich lachte auf. Dummes kleines Menschlein… höhnte ich in Gedanken. Der Tritt war für mich nicht mehr, als eine sanfte Berührung gewesen und in keinem Fall schmerzvoll.
Ich wollte meine Reißzähne gerade an die Kehle des Mädchens legen, als ich Schritte vernahm. Schneller werdende Schritte. Ich ließ das Mädchen achtlos zu Boden fallen und sie kämpfte sich wieder auf die Beine. Dann tat sie etwas Untypisches. Sie blieb stehen und sah mich einfach an. Ohne Furcht im Blick, ohne jegliche Angst.
Ich schenkte ihr keine Beachtung mehr, da in diesem Moment ein groß gewachsener Mann aus den Schatten der Bäume trat. Er bleckte die Zähne. Ein Werwolf. Ein flüchtiges Lächeln zuckte um meine Mundwinkel und ich wandte mich ab. „Keine Sorge…“, beschwichtigte ich den aufgebrachten Wolf, „Wir haben uns nur unterhalten…“ Meine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen und in wenigen Augenblicken war ich zwischen den Bäumen verschwunden. Meine Geschwindigkeit war unmenschlich. Viel zu schnell und meine Bewegungen waren viel zu flüssig. Doch das kümmerte mich wenig. Ich setzte durch den Wald hindurch. Es war mir egal, dass das Mädchen mir durch die Lappen gegangen war, sie wäre ein willkommenes Spielzeug gewesen, aber nicht wichtig genug um jetzt mit einem Werwolf zu kämpfen. Eigentlich wäre es mir auch gleichgültig gewesen, wenn es zu einer Auseinandersetzung gekommen wäre, aber ich war nicht in der richtigen Stimmung. Ich hörte noch das erneut anbrechende Gebell des Hundes, das diesmal allerdings nicht von Furcht durchzogen war. Es war freudig. Rettung, Freund!, kläffte der Köter und ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er um den Werwolf herumsprang und übermütig mit dem Schwanz wedelte. Ich zuckte nur mit den Schultern und lehnte mich gegen einen Baum. Gewiss würde der Werwolf das Mädchen jetzt fragen, was genau passiert war und würde ihr irgendeine abgedroschene Erklärung dafür geben, dass ich so schnell verschwunden war und warum ich… eben wie ein Dämon war… Oder aber, er würde sie umbringen, was ich mir nur schwer vorstellen konnte, da er sie mir ansonsten überlassen hätte können. Was ich absolut ausschloss war, dass er ihr alles erklärte. Dass die Legenden über Vampire, Werwölfe und Dämonen wahr waren. Das wäre unverantwortlich. Der „Friede“ zwischen den Menschen und den magischen Wesen konnte nur bestehen, weil diese einfältigen Kreaturen nichts von unserer Existenz ahnten. Denn wüsste auch nur einer, dieser unterentwickelten Geschöpfe etwas über die Welt der Magie, würden es alle wissen. Sie waren nicht dazu bestimmt, es zu erfahren. Sie waren dazu vorgesehen, unaufgeklärt auf der Welt zu leben und für Unsereins als Beute zu dienen.
Doch es gab magische Wesen, die das nicht einsehen konnten. Wesen wie die Werwölfe, oder die Sylunera. So ein Wesen wie ich auch einmal gewesen war, doch jetzt wusste ich es besser. Die Menschen waren untergeordnet, nichts wert. Aber manche waren da anderer Meinung. Sie beschützten die Menschen vor jenen, die sie als das sahen, was sie wirklich waren, Jagdbeute. Mir entfuhr ein verächtliches Zischen, als ich daran dachte. Ich mochte vielleicht einmal jemand gewesen sein, der sich für die Menschen eingesetzt hätte, wenn es darum gegangen wäre, sie völlig auszulöschen, aber nun… nun waren sie nichts anderes als wertloses Spielzeug. Es war vermutlich das Denken des Dämons, dass sich da bei mir einschlich, aber ich selbst erkannte, dass es richtig war, diese Ansicht zu vertreten. Menschen zerstörten. Menschen waren schwach. Und sie waren nur ein Dorn im Auge, nichts weiter! Warum sich so viele magische Wesen wünschten, wieder ein Mensch zu sein war mit absolut unergründbar. Selbst mein Bruder sehnte sich aus ganzem Herzen danach ein Mensch zu sein, er kam mit unserer Welt nicht zurecht. Arkaras konnte sich zwar nicht vorstellen, sich von Aylea zu trennen, das brächte er nicht über das Herz, aber wenn es eine Möglichkeit gebe, sie wieder vollkommen zu einem Teil seiner Seele zu machen, der in ihm war, so wie bei den Menschen, dann würde er diesen Weg wählen.
Ein Seelentier stellte immer einige gewisse Eigenschaften eines Charakters dar, die diesem dann fehlte, wenn er nicht mit dem Träger verbunden war. Aylea war für meinen Bruder seine Wortgewandtheit, seine Bedenkenlosigkeit, einfach diese Art in alles Vertrauen zu setzen. Deshalb ähnelten sich Syluner und Seelentier auch nie. Sie waren meist beinahe gegenteilig.
Sayeron war für mich… einfach jedes Gefühl gewesen? Ich hatte, seit er gestorben war nichts mehr empfunden als dunkle Leere, Kälte, Schmerz und einen verbitterten Zorn, der gegen nichts gerichtet war. Sayeron war für mich jedoch vor allem Mitgefühl, Freude und Liebe gewesen, alle jene Gefühle, die mir seit dem am aller meisten fehlten. Wenn ich etwas spürte, dann war es negativ, nie ein schöner Eindruck, nie etwas, dass mich lächeln, oder auch nur einen Funken von Leben in meinen toten Augen aufblitzen ließ. Seit Sayeron gegangen war, hatte ich erst ein einziges Mal nicht nur kalte Leere gezeigt. Einmal. Nicht öfter. Sein Tod lag schon beinahe fünf Jahrzehnte zurück. Doch was hatte ich in dieser einsamen, nicht enden wollenden Zeit getan, nichts. Ich hatte versucht alles auszublenden. War Jahrelang einfach nur auf dem morschen Boden des alten Gebäudes gesessen und hatte mich nicht gerührt. Ich war verletzt gewesen, so verletzt, dass ich nicht einmal mehr wusste, woher der Schmerz kam… sodass ich ihn kaum noch spürte. So viele Wunden waren aufgerissen worden, so viele Messer waren in meine Seele gerammt worden, dass ich den Schmerz nur mehr als eine einzige, alles übergreifende Hitze wahrnahm, die mit der Zeit zu brennender Kälte wurde, die mich in die Dunkelheit riss. Ich erinnerte mich noch, als Arkaras mich gefunden hatte, bevor ich zum Dämon wurde… Er hatte Angst vor mir gehabt, mehr Angst, als er jetzt vor mir hatte, obwohl ich jetzt eine bluthungrige Bestie war. Jetzt hätte ich wohl darüber gelacht, spöttisch und gnadenlos, wenn ich noch lachen hätte können. Damals war ich wie tot gewesen. Noch nicht einmal dreizehn Jahre alt und ich war dem Tod begegnet. Nicht dem sanften Tod, wie ihn sich die Menschen vorstellten, nein dem grausamen, allesumfassenden Tod, der unausweichlich auf jeden von uns zukam und wie eine Lawine über einen einbrach. Dann wurde man in eisige Kälte gehüllt, Kälte, die nichts an einen heran ließ, die jedoch trotzdem den Schmerz nicht abhielt und die immer wieder über einem zusammenbrach und wie ein Stromschlag durch einen zuckte. Doch da war noch diese andere Qual. Man ließ alles unvollendet zurück, ohne, dass man jemandem warnen hätte können verließ man alle jene, die man mochte, ließ sie in einem trostlosen Chaos zurück. Doch was passierte, wenn der Tod einem streifte, sich um sein Herz legte, und dann… einfach dort verharrte, ohne zuzudrücken, ohne den Gnadenstoß zu erteilen, wenn er einen einfach weiterleben ließ, wie eine leere Hülle? Wenn man von seiner Seele getrennt wurde, und trotzdem weiter auf den Beinen stehen musste? Wenn man dazu gezwungen wurde, in der Dunkelheit zu wandern, Schritt für Schritt weiterzukämpfen, während man eigentlich schon lange in ewigen Schlaf gefallen sein müsste? Dann war man wie ich.
Ich wandelte auf einem Weg, der kein Ziel hatte und völlig von Dunkelheit überschattet war. Lichtlos. Trostlos.
Dann verlor man alle Hoffnung. Alles, was einem noch am Leben lag, verschwand, selbst wenn noch jemand da war, der nicht wollte, dass man sich dem Tod ergab. Ich hatte mich selbst verloren, hatte meinen Mut verloren.
Doch anstatt mich in dieser Dunkelheit tappen zu lassen, in meiner eigenen kalten Schwärze, schlich sich jemand bei mir ein, der noch größere Finsternis brachte, noch mehr Unheil und noch mehr Leid. Dadurch wurde ich dazu gezwungen, mich hoch zu kämpfen und genau in die Leere hinein zu gehen.
Ich fiel. Tiefer, als jemals zuvor. Und als ich am Boden aufschlug, war ich nicht tot. Ich lebte. Würde ewig leben. Eine ewige Existenz, durchzogen von Schmerz, ohne auch nur den kleinsten Lichtblick. Ein verfluchtes Dasein. Ich stand nicht mehr auf, und erfror, erstarrte, in der Kälte, die mich umgab. Jetzt war ich das, was ich war… ein gefühlskalter Dämon.
Ich merkte gar nicht, dass ich mich von dem Baum abgestoßen hatte und in leichten Lauf verfallen war. Ich lief ohne Ziel und doch hatte ich etwas vor Augen. Ich wusste nicht, in welche Richtung ich steuerte, ich hatte die Stadt im Rücken, ließ sie hinter mir. Meine Schritte waren weit ausholend und meine Füße berührten den Boden kaum. Der Wind, der eigentlich kalt hätte sein müssen, schlug mir warm entgegen und spielte mit meinen Haaren und meinen Kleidern. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Gerüche und Geräusche um mich herum. Aus der Richtung aus der der Wind kam schlug mir eine erdige Fährte entgegen, vermischt mit einem leichten Geruch nach Harz. Etwas entfernt nahm ich noch schwach das Menschenmädchen und den Werwolf war. Der Geruch des Rüden stieg mir beißend in die Nase und ich zog sie kraus. Seine Spur roch bitter, nach überreifen Haselnüssen und zerbissenen Knochen, außerdem nach dem leichten Geruch von Wasser, was seinen Geruch noch stechender machte.
Der Geruch des Menschenmädchens irritierte mich. Er roch nicht nach Mensch, nicht nach dieser verwirrenden, künstlichen Fährte, die jedem von ihnen anhaftete. Diese Spur, die ihre Verweichtheit ganz deutlich zeigte. Das Mädchen roch nach… Wald, Wildheit und Freiheit. Nach süßlichem Baumblut und herben Beeren. Ich zog die Augenbrauen verwirrt zusammen und blieb stehen. Ich hob witternd den Kopf und kniff die Augen leicht zusammen. Vermutlich witterte ich etwas anderes… jemand anderen… Ich hatte vorhin nicht auf ihren Geruch geachtet, hatte mich lediglich auf ihr Blut konzentriert, und das roch bei allen gleich, sowohl bei Menschen als auch bei den magischen Wesen, nur Dämonenblut roch anders. Wir waren selbst unter den magischen Wesen sonderbar. Nichts an uns war normal. Das war mir aber nicht wichtig. Mir war es sogar recht, dass ich beinahe gar nichts mit den Menschen gemeinsam hatte. Ich senkte den Kopf wieder und schaute auf den Boden, dann trieb ich meine Beine wieder voran. Meine Schritte wurden schneller, bis ich alles um mich herum nur mehr in einer einzigen grauen Fläche an mir vorbeiziehen sah, ich achtete nicht auf die kahlen Bäume die meinen Weg zu beiden Seiten säumten, und auch nicht auf den Schnee, über den meine Beine flogen. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich die ganze Umgebung erkennen können, aber ich wollte nicht. Es war mir nicht wichtig zu erkennen, wie die Landschaft rings um mich aussah. Ich hatte nicht vor, den Weg zurück wieder zu suchen, und selbst wenn ich es doch beabsichtigte zurück zu kehren, wollte ich den Pfad nicht mehr finden. Es ist besser so… redete ich mir ein, es war die Wahrheit. Ich musste weit weg von alledem. Weg von dieser Stadt, weg von den verhassten Menschen, weg von meinem Bruder und weg von der Wirklichkeit. Ich wollte tief in den Wald hinein, zu den Berghängen hinauf, dorthin, wo der Himmel beinahe die Bergspitzen berührte, und wo sich kein Mensch und kein magisches Wesen hinwagte.
Noch schneller trieb ich meinen Lauf voran, bis ich den Boden kaum mehr berührte. Ich schien zu fliegen, folgte dem Wind, wurde von ihm getragen, Ich vergaß für einige Momente meine Sorgen und konzentrierte mich einzig und allein auf meine Schritte, die kaum noch zu hören waren, so leise bewegte ich mich. Lange Zeit lief ich, und stürmte in Richtung der Hänge.
Plötzlich hielt ich an. Ich wusste selbst nicht wieso, aber eine seltsame Gewissheit sagte mir, dass ich mein Ziel erreicht hatte. Ich hatte, bis ich stehen geblieben war nicht einmal gewusst, dass ich eine Absicht gehabt hatte, aber jetzt war ich mir sicher, dass ich hier etwas wollte.
Ich sah mich um. Ich war immer noch im Wald, die Bäume standen dicht an dicht, und streckten ihre Äste in Richtung Himmel. Sie schienen nach den Wolken zu greifen und nach der Sonne, die schon tief am Horizont stand und beinahe die Gipfel der Berge berührte. Ich ließ meinen Blick an den kahlen Stämmen der Buchen entlang schweifen. Meine Augen blieben auf einem kleinen Felsen ruhen, vor dem ich stehen geblieben war. Irgendetwas an dem Stein irritierte mich. Er war in einem ganz gewöhnlichen fahlen Grauton und an manchen Stellen schon beinahe weiß, in der Mitte war ein seltsamer, bernsteinähnlicher Einschluss, das war, was mich durcheinanderbrachte. Ich ließ mich neben dem Stein auf die Knie sinken und legte die Handflächen an den Fels, es war Granit. Es fühlte sich seltsam an, wie warme… Haut… außerdem schien es gegen meine Handflächen zu Pochen. Es hob und senkte sich. Wie eine steinerne Brust, in der ein kleines Herz schlug, ein lebendiges. Ich strich an dem weißlichen Fels entlang und meine Finger begannen zu kribbeln, je näher ich an den bernsteinfarbenen Einschluss heran kam. Es kam mir vor, als würde ich unter Strom stehen. Ich kauerte mich so hin, dass mein Blick problemlos auf das gelblich – braune Gestein ruhen konnte. Das… war kein Fels... das war ein Loch! Darin war etwas…
Ich zögerte. Was, wenn es… etwas Magisches war? Was wenn es mich das Leben kostete in die kleine Höhle hinein zu fassen? Ja, was wenn…? Eigentlich war es mir egal. Scheute ich denn den Tod? Nein, das tat ich nicht und es machte mir nichts aus, wenn ich sterben musste. Der Tod war jedoch das einzige, dem ich noch ein Gefühl entgegen brachte. Nämlich Hass! Ich hasste ihn dafür, dass er mit mir seine Spielchen trieb. Zuerst stürzte er meinen Seelenträger ins Verderben, und ließ mich halb tot zurück, halb tot und seelenlos, dann verdammte er mich zu einem ewigen Leben, belastet mit einem dunklen Fluch.
Ich streckte die Hand nach dem bernsteinfarbenen Loch aus, doch noch bevor ich hinein fassen konnte durchzuckte mich ein brennender Schmerz, kalt und doch zugleich verbrennend. Mein Puls raste hinter meinen Schläfen, mir wurde beinahe schwarz vor Augen. Schnell zog ich mich wieder zurück und starrte auf das Loch, das gefährlich glühte. Ein rotes Licht. Das sich in meine Sicht brannte. Es war, als würde man zu lange auf hellen Schnee starren, als würde man erblinden. Rot trübte meine Sicht und hüllte mich schließlich vollkommen ein. Da war wieder diese seltsame Gewissheit, die mir sagte, dass ich mir den Inhalt des Loches nehmen sollte. Ich streckte die Hand aus, und zog sie sogleich wieder zurück. Erneut dieser erkaltete Schmerz. Ich biss die Zähne zusammen und ließ meine Finger langsam in den schmalen Spalt wandern. Ich ignorierte das immer brennender werdende Stechen und tastete nach dem, was da in den Fels eingeschlossen war. Schließlich ertastete ich etwas. Es fühlte sich an wie kaltes Metall, ich fand einen Griff, einen Dolchknauf, doch als sich meine Finger darum schlossen wurde der Schmerz zur unerträglichen Qual. Meine Finger verkrampften sich um das Eisen und ich konnte nicht mehr loslassen. Ich riss die Hand aus dem Spalt und richtete meinen flackernden Blick auf das, was ich krampfhaft mit der Hand umklammerte. Es war tatsächlich ein Dolch. Seine Klinge war leicht gebogen und auf beiden Seiten geschliffen. Sie lief zu einer tödlichen Spitze zusammen, die mit Leichtigkeit eine Sehne durchtrennen konnte. Die Schneide war jedoch nicht in einem metallischen Silber gefärbt, sondern schimmerte in einem seltsamen Bernsteinton. Darauf pochten dünne Adern in Rot, als würde Blut durch die Klinge zirkulieren, als fließe in ihnen das Blut des Bernsteins. Ein einziger Einschluss war in einem tiefen, undurchdringlichen Schwarz, dunkel wie die Nacht. Dieser eine, dünne Strich auf der Waffe strahlte so unwirklich, das ich glaubte, ich müsse träumen. Ich hatte das Aussehen des Dolches in wenigen Augenblicken erfasst, dann wurde ich von einer neuerlichen Welle aus brennendem Eis übermannt. Der Schmerz brach unaufhaltsam über mir zusammen und ich wurde in seinen Strudel gerissen. Ich versuchte meine verkrampften Finger um den Knauf der Waffe zu lösen. Doch meine Finger waren wie eingefroren, durch diesen brennenden Schmerz, der mich durchwalte. Ich schloss die Augen. Es war vorbei. Ich wusste nicht mehr wo der Flammenherd war, ich wurde von dem kalten Feuer in die Knie gezwungen. Ich sank in mir zusammen, mein Bewusstsein entglitt mir. Bald war ich tot, endgültig tot.
2.Nacht
Bernsteinblut
Alles war rot. Langsam wurden meine Gedanken wieder klar, der undurchdringliche Schleier verschwand aus meinem Geist. Was war geschehen? Ich sah Blut… viel zu viel Blut… Ich konnte mich kaum noch erinnern, was zuvor geschehen war. Ich schüttelte ruckartig den Kopf.
Ich rannte. Gegen den Wind. Weg. Weg von diesem Geruch, der den Dämon hervor gerufen hatte. Die Mauern der alten Gassen schienen auf mich einzustürzen, während ich durch sie hindurch hetzte. Die Luft die ich einatmete gelangte nicht mehr in meine Lungen. Sie schnürte mir die Kehle zu, versetzte mir brennende Stiche. Ich drohte zu ersticken. Meine Sinne wurden von einem unvorstellbaren Brennen überschattet. Alles färbte sich in ein stechendes Rot. Dann stürzte ich in die tiefe Dunkelheit.
Nun stand ich wieder in dunkles Rot gehüllt da. Die Wände der schmalen Gasse waren mit Blut überzogen, dessen salziger Geruch schwer in der Luft lag. Ich senkte den Blick zu Boden, wollte am liebsten vergessen, was ich gesehen hatte, wollte nie wieder aufblicken und wollte nicht erfahren, von wem das Blut stammte.
Doch als ich die Augen nach unten richtete sah ich, dass meine Hände mit demselben Blut beschmiert waren. Es war menschliches Blut. Ich schmeckte es auf meinen Lippen. Spürte es in meiner Kehle. Ich wandte mich ab. Ich musste sofort von hier Weg. Kein einziges Mal würdigte ich die Gasse noch eines Blickes, wollte einfach fortlaufen.
Meine Schritte hallten laut von den Wänden wieder und klangen noch lange nachdem sie erstorben waren.
Langsam breitete sich eine eisige Käte in meinem Herzen aus, die alles andere verschlang. Eine harte Maske legte sich über mein Gesicht, verdeckte jeglichen Ausdruck in meinen Augen. Alles um mich herum erstarb in Eis.
Mein Unterbewusstsein sagte mir, dass ich Schuld empfinden sollte und Ekel vor dem was ich getan hatte, oder zumindest das Verlangen nach dem Blut. Doch da war kein Gefühl. Nur ein tiefes Loch. Kein Herz, keine Seele. Nur eine dunkle Kluft, deren schwarze Wände links und rechts von mir wie hohe Wellen einzubrechen schienen.
Eingefroren. Kalt. Gefühllos. Ohne jede Emotion. Und irgendwie gefiel mir diese Leere. Ich wusste nicht wieso, aber es war angenehm. Angenehm keinen Schmerz mehr zu fühlen, der mich ständig begleitet hatte, seitdem Sayeron gestorben war und auch keinen Hass mehr auf den Dämon und auf mich selbst… vor allem auf mich selbst. Ein selbstgefälliges Zucken tanzte um meine Mundwinkel, wurde aber nicht zu einem Lächeln. Es wurde von der düsteren Kälte überschattet.
Ich setzte meine Schritte fort, ignorierte es einfach, dass meine ganze Seite mit einer getrockneten Schicht aus Blut überzogen war und stapfte aus dem verlassenen Stadtviertel hinaus, in Richtung Wald. Ich wusste nicht, ob ich der Stadt wohl je wieder mein Gesicht zuwenden würde, ob ich je wieder zurückkommen würde. Arkaras würde mich suchen… gewiss würde er das tun… aber ich war schneller als er. Es würde mir außerdem nichts ausmachen, wenn er mir folgen würde. Wenn es darauf ankam, konnte ich ihn ja töten. Der Gedanke erschreckte mich nicht. Ich wusste nicht einmal ob das mein Einfall gewesen war, oder der des Dämons. Es war mir auch egal.
Kurz hielt ich an, als ich zu der Brücke kam, an der Arkaras und ich noch heute am Morgen beschlossen hatten, dass wir zusammen blieben. Das alles kam mir so fern vor. Hatte ich nicht noch gelacht, als Aylea mich stürmisch angesprungen hatte? Es kam mir so banal vor, so unnütz. Mir war doch von vornherein klar gewesen, dass ich wieder gehen würde.
Ich schüttelte verächtlich den Kopf darüber, dass ich so etwas wie Gefühle gezeigt hatte, und stapfte weiter.
Lange war es still um mich herum. Kein Vogel wagte es in meiner Gegenwart einen Ton von sich zu geben, die Mäuse hatten ihren Weg unter der Erde abgebrochen und verursachten nicht den kleinsten Laut. Die Tiere, die es gewagt hätten sich noch zu rühren waren nicht hier, oder hielten Winterschlaf. Die Welt lag unter einer Decke, die alles ruhiger werden ließ und gleichzeitig abkühlte. Doch diese Kälte war nichts verglichen mit dem Eis, das mein Innerstes einhüllte.
Plötzlich drang von der Ferne Hundegekläff an mein Ohr. Scharfe, kurze Laute, die mit Furcht und Wachsamkeit durchzogen waren. Schatten, Tod!, bellte der Hund, der sein Herrchen mit seinem Gefiepe dazu bringen wollte nicht in meine Richtung zu gehen. Seine Stimme überschlug sich, da der Mensch, der ihn begleitete nicht umdrehen wollte.
Schatten, Tod!, warnte er immer wieder. Ein kaltes Schmunzeln schlich sich in meine Mundwinkel. Sogar ein kleiner, unwissender Hund erkannte, dass von mir eine unbegreifliche Gefahr ausging, nur die Menschen, jene Wesen, die als meine Beute dienten merkten von alledem nichts. Sie wurden von der Fassade getäuscht, um die ich mich nicht einmal bemühte. Es war mir egal, ob man herausfand, was ich war, jeder, der das tun würde, hätte nicht mehr länger als ein paar Augenblicke zu leben.
Das Kläffen kam näher. Schatten, Tod!, halten die unablässigen Warnungen des Hundes durch den Wald. Doch er und sein Mensch hielten beständig auf mich zu.
Meine Lippen verzogen sich zu einem überlegenen Grinsen und ich sprang auf einen der blattlosen Bäume, die den Waldrand bildeten.
Ich schlüpfte aus meinem blutüberströmten Mantel. Nun kauerte ich nur mehr im T-Shirt da. Ich hängte den Mantel achtlos über einen kleinen Ast und richtete den Blick wieder in die Richtung, aus der das Gekläff immer noch unablässig drang.
Einige Momente später schoss ein kleiner, kastanienbrauner Hund aus dem Unterholz. Sein zotteliges Fell war nass von den Schneeflocken, die auf seinem dichten Pelz lagen und langsam schmolzen. Sie gruben sich in feinen Rinnsalen unter seine langen Haare. Er streckte die Schnauze witternd in die Luft und seine tiefbraunen Augen schweiften suchend umher. Erneut fiepte er eine gehetzte Warnung, als ein Menschenmädchen aus den Büschen trat. Sie strich dem kleinen Hund kurz über den Kopf. Damit versuchte die Kleine, den immer noch bellenden Hund zu beruhigen, was ihr nicht sehr gut gelang. Sie trug eine gräuliche Winterjacke und hatte den oberen Teil ihre rötlich – braunen Haare unter einer blauen Mütze verborgen.
Ihre Augen, die sich nun ebenfalls suchend umblickten, da der Hund nicht aufhörte zu kläffen, hatten die Farbe von flüssiger Schokolade, aber das lag nur an dem schummrig – grauen Licht. Normalerweise wären sie wohl heller, vielleicht sogar bernsteinfarben. Ich hatte sie mir nur mit einem kurzen Blick angesehen. Es war mir eigentlich absolut gleichgültig, wen ich da vor mir hatte.
Ich sprang mit einem schnellen Satz vom Baum und landete in lockerer Kauerhaltung vor dem Mädchen. Ich richtete mich in einer fließenden Bewegung auf. Der Hund begann erneut zu bellen und zog die Lefzen so weit nach oben, dass ich sein Zahnfleisch sehen konnte. Ein mickriges Knurren drang aus seiner Kehle und seine Fangzähne blitzten auf. Ich schüttelte nur herablassend den Kopf.
Nun schaltete sich das Menschenmädchen ein, sodass ich meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Sie schnaubte verächtlich und streifte mich mit einem abgeneigten Blick.
„Wurde dir nicht beigebracht, dass man grüßt, wenn man jemandem in den Weg springt?“, fragte sie mit unüberhörbarem Sarkasmus in der Stimme. Ich zog in gespielter Belustigung die Augenbraue hoch und meine Lippen zuckten leicht nach oben. Die Emotionen waren nicht echt, ich hatte keine Gefühle.
„Hallo…“, meinte ich wobei mein Ton am Ende verächtlich nach unten schwang. Keine Regung ging durch meinen Geist als das Mädchen ein kaltes Funkeln in den Augen bekam.
„Würdest du mir jetzt verraten, was das soll? Hast du nichts Besseres zu tun, als irgendwelchen fremden Leuten in die Quere zu kommen?“, setzte sie mit scharfem Unterton nach. Ich konnte mir ein hartes Auflachen nicht verkneifen. Die Augenbrauen des Mädchens zogen sich zusammen.
„Was ist so lustig?!“, herrschte sie mich an und suchte meinen Blick, den ich mit der Kälte des Todes entgegnete. Sie zuckte nicht zurück, aber ich konnte die Überraschung sehen, die sich nur für den Bruchteil einer Sekunde in ihren Augen spiegelte. Dann funkelte sie mich wieder wütend an. Sie schien es nicht leiden zu können, wenn man von ihr Notiz nahm, oder ihr gar in die Quere kam.
„Deine Art…“, entgegnete ich tonlos. Meine Stimme war immer noch leer. Das Mädchen stieß ein unfreundliches Zischen aus.
„Was meinst du damit?!“, hakte sie mit hartem Tonfall nach, der bei einem normalen Menschen wohl keinen Wiederspruch zugelassen hätte.
Ich zuckte nur desinteressiert mit den Schultern und wandte mich ab. Mein Blick streifte noch einmal kurz den Köter, der mich immer noch mit gebleckten Zähnen, jedoch mit eingezogener Rute beobachtete. Ich überlegte einen Augenblick, ob ich dem Köter einen Tritt versetzten sollte, ließ es dann aber bleiben, da ich keine sonderliche Lust hatte mir das Geschrei des Menschenmädchens anzuhören, wenn ich ihrem geliebten Kläffer etwas tat. Das Mädchen packte mich unsanft am Arm. Im nächsten Augenblick stand ich hinter ihr und hielt ihr den Mund zu, sodass sie nicht schreien konnte.
„Jetzt hörst du mir einmal genau zu, Kleine…“, setzte ich an und strich ihr dabei mit der freien Hand über die Kehle und meine Finger wanderten an ihrer Halsschlagader nach oben. Ich spürte, wie sie trocken schluckte und langsam nickte. Sie war in keiner Weise so verängstigt, wie die anderen, die ich bis jetzt zwischen meine Klauen bekommen hatte. Das gefiel mir.
„Du solltest aufpassen, welchen Ton du anschlägst… diese Frechheiten könnten dich einiges kosten…“, führte ich meinen Satz fort und fuhr erneut die Konturen ihres Halses nach. Sie trat nach mir. Ich lachte auf. Dummes kleines Menschlein… höhnte ich in Gedanken. Der Tritt war für mich nicht mehr, als eine sanfte Berührung gewesen und in keinem Fall schmerzvoll.
Ich wollte meine Reißzähne gerade an die Kehle des Mädchens legen, als ich Schritte vernahm. Schneller werdende Schritte. Ich ließ das Mädchen achtlos zu Boden fallen und sie kämpfte sich wieder auf die Beine. Dann tat sie etwas Untypisches. Sie blieb stehen und sah mich einfach an. Ohne Furcht im Blick, ohne jegliche Angst.
Ich schenkte ihr keine Beachtung mehr, da in diesem Moment ein groß gewachsener Mann aus den Schatten der Bäume trat. Er bleckte die Zähne. Ein Werwolf. Ein flüchtiges Lächeln zuckte um meine Mundwinkel und ich wandte mich ab. „Keine Sorge…“, beschwichtigte ich den aufgebrachten Wolf, „Wir haben uns nur unterhalten…“ Meine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen und in wenigen Augenblicken war ich zwischen den Bäumen verschwunden. Meine Geschwindigkeit war unmenschlich. Viel zu schnell und meine Bewegungen waren viel zu flüssig. Doch das kümmerte mich wenig. Ich setzte durch den Wald hindurch. Es war mir egal, dass das Mädchen mir durch die Lappen gegangen war, sie wäre ein willkommenes Spielzeug gewesen, aber nicht wichtig genug um jetzt mit einem Werwolf zu kämpfen. Eigentlich wäre es mir auch gleichgültig gewesen, wenn es zu einer Auseinandersetzung gekommen wäre, aber ich war nicht in der richtigen Stimmung. Ich hörte noch das erneut anbrechende Gebell des Hundes, das diesmal allerdings nicht von Furcht durchzogen war. Es war freudig. Rettung, Freund!, kläffte der Köter und ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er um den Werwolf herumsprang und übermütig mit dem Schwanz wedelte. Ich zuckte nur mit den Schultern und lehnte mich gegen einen Baum. Gewiss würde der Werwolf das Mädchen jetzt fragen, was genau passiert war und würde ihr irgendeine abgedroschene Erklärung dafür geben, dass ich so schnell verschwunden war und warum ich… eben wie ein Dämon war… Oder aber, er würde sie umbringen, was ich mir nur schwer vorstellen konnte, da er sie mir ansonsten überlassen hätte können. Was ich absolut ausschloss war, dass er ihr alles erklärte. Dass die Legenden über Vampire, Werwölfe und Dämonen wahr waren. Das wäre unverantwortlich. Der „Friede“ zwischen den Menschen und den magischen Wesen konnte nur bestehen, weil diese einfältigen Kreaturen nichts von unserer Existenz ahnten. Denn wüsste auch nur einer, dieser unterentwickelten Geschöpfe etwas über die Welt der Magie, würden es alle wissen. Sie waren nicht dazu bestimmt, es zu erfahren. Sie waren dazu vorgesehen, unaufgeklärt auf der Welt zu leben und für Unsereins als Beute zu dienen.
Doch es gab magische Wesen, die das nicht einsehen konnten. Wesen wie die Werwölfe, oder die Sylunera. So ein Wesen wie ich auch einmal gewesen war, doch jetzt wusste ich es besser. Die Menschen waren untergeordnet, nichts wert. Aber manche waren da anderer Meinung. Sie beschützten die Menschen vor jenen, die sie als das sahen, was sie wirklich waren, Jagdbeute. Mir entfuhr ein verächtliches Zischen, als ich daran dachte. Ich mochte vielleicht einmal jemand gewesen sein, der sich für die Menschen eingesetzt hätte, wenn es darum gegangen wäre, sie völlig auszulöschen, aber nun… nun waren sie nichts anderes als wertloses Spielzeug. Es war vermutlich das Denken des Dämons, dass sich da bei mir einschlich, aber ich selbst erkannte, dass es richtig war, diese Ansicht zu vertreten. Menschen zerstörten. Menschen waren schwach. Und sie waren nur ein Dorn im Auge, nichts weiter! Warum sich so viele magische Wesen wünschten, wieder ein Mensch zu sein war mit absolut unergründbar. Selbst mein Bruder sehnte sich aus ganzem Herzen danach ein Mensch zu sein, er kam mit unserer Welt nicht zurecht. Arkaras konnte sich zwar nicht vorstellen, sich von Aylea zu trennen, das brächte er nicht über das Herz, aber wenn es eine Möglichkeit gebe, sie wieder vollkommen zu einem Teil seiner Seele zu machen, der in ihm war, so wie bei den Menschen, dann würde er diesen Weg wählen.
Ein Seelentier stellte immer einige gewisse Eigenschaften eines Charakters dar, die diesem dann fehlte, wenn er nicht mit dem Träger verbunden war. Aylea war für meinen Bruder seine Wortgewandtheit, seine Bedenkenlosigkeit, einfach diese Art in alles Vertrauen zu setzen. Deshalb ähnelten sich Syluner und Seelentier auch nie. Sie waren meist beinahe gegenteilig.
Sayeron war für mich… einfach jedes Gefühl gewesen? Ich hatte, seit er gestorben war nichts mehr empfunden als dunkle Leere, Kälte, Schmerz und einen verbitterten Zorn, der gegen nichts gerichtet war. Sayeron war für mich jedoch vor allem Mitgefühl, Freude und Liebe gewesen, alle jene Gefühle, die mir seit dem am aller meisten fehlten. Wenn ich etwas spürte, dann war es negativ, nie ein schöner Eindruck, nie etwas, dass mich lächeln, oder auch nur einen Funken von Leben in meinen toten Augen aufblitzen ließ. Seit Sayeron gegangen war, hatte ich erst ein einziges Mal nicht nur kalte Leere gezeigt. Einmal. Nicht öfter. Sein Tod lag schon beinahe fünf Jahrzehnte zurück. Doch was hatte ich in dieser einsamen, nicht enden wollenden Zeit getan, nichts. Ich hatte versucht alles auszublenden. War Jahrelang einfach nur auf dem morschen Boden des alten Gebäudes gesessen und hatte mich nicht gerührt. Ich war verletzt gewesen, so verletzt, dass ich nicht einmal mehr wusste, woher der Schmerz kam… sodass ich ihn kaum noch spürte. So viele Wunden waren aufgerissen worden, so viele Messer waren in meine Seele gerammt worden, dass ich den Schmerz nur mehr als eine einzige, alles übergreifende Hitze wahrnahm, die mit der Zeit zu brennender Kälte wurde, die mich in die Dunkelheit riss. Ich erinnerte mich noch, als Arkaras mich gefunden hatte, bevor ich zum Dämon wurde… Er hatte Angst vor mir gehabt, mehr Angst, als er jetzt vor mir hatte, obwohl ich jetzt eine bluthungrige Bestie war. Jetzt hätte ich wohl darüber gelacht, spöttisch und gnadenlos, wenn ich noch lachen hätte können. Damals war ich wie tot gewesen. Noch nicht einmal dreizehn Jahre alt und ich war dem Tod begegnet. Nicht dem sanften Tod, wie ihn sich die Menschen vorstellten, nein dem grausamen, allesumfassenden Tod, der unausweichlich auf jeden von uns zukam und wie eine Lawine über einen einbrach. Dann wurde man in eisige Kälte gehüllt, Kälte, die nichts an einen heran ließ, die jedoch trotzdem den Schmerz nicht abhielt und die immer wieder über einem zusammenbrach und wie ein Stromschlag durch einen zuckte. Doch da war noch diese andere Qual. Man ließ alles unvollendet zurück, ohne, dass man jemandem warnen hätte können verließ man alle jene, die man mochte, ließ sie in einem trostlosen Chaos zurück. Doch was passierte, wenn der Tod einem streifte, sich um sein Herz legte, und dann… einfach dort verharrte, ohne zuzudrücken, ohne den Gnadenstoß zu erteilen, wenn er einen einfach weiterleben ließ, wie eine leere Hülle? Wenn man von seiner Seele getrennt wurde, und trotzdem weiter auf den Beinen stehen musste? Wenn man dazu gezwungen wurde, in der Dunkelheit zu wandern, Schritt für Schritt weiterzukämpfen, während man eigentlich schon lange in ewigen Schlaf gefallen sein müsste? Dann war man wie ich.
Ich wandelte auf einem Weg, der kein Ziel hatte und völlig von Dunkelheit überschattet war. Lichtlos. Trostlos.
Dann verlor man alle Hoffnung. Alles, was einem noch am Leben lag, verschwand, selbst wenn noch jemand da war, der nicht wollte, dass man sich dem Tod ergab. Ich hatte mich selbst verloren, hatte meinen Mut verloren.
Doch anstatt mich in dieser Dunkelheit tappen zu lassen, in meiner eigenen kalten Schwärze, schlich sich jemand bei mir ein, der noch größere Finsternis brachte, noch mehr Unheil und noch mehr Leid. Dadurch wurde ich dazu gezwungen, mich hoch zu kämpfen und genau in die Leere hinein zu gehen.
Ich fiel. Tiefer, als jemals zuvor. Und als ich am Boden aufschlug, war ich nicht tot. Ich lebte. Würde ewig leben. Eine ewige Existenz, durchzogen von Schmerz, ohne auch nur den kleinsten Lichtblick. Ein verfluchtes Dasein. Ich stand nicht mehr auf, und erfror, erstarrte, in der Kälte, die mich umgab. Jetzt war ich das, was ich war… ein gefühlskalter Dämon.
Ich merkte gar nicht, dass ich mich von dem Baum abgestoßen hatte und in leichten Lauf verfallen war. Ich lief ohne Ziel und doch hatte ich etwas vor Augen. Ich wusste nicht, in welche Richtung ich steuerte, ich hatte die Stadt im Rücken, ließ sie hinter mir. Meine Schritte waren weit ausholend und meine Füße berührten den Boden kaum. Der Wind, der eigentlich kalt hätte sein müssen, schlug mir warm entgegen und spielte mit meinen Haaren und meinen Kleidern. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Gerüche und Geräusche um mich herum. Aus der Richtung aus der der Wind kam schlug mir eine erdige Fährte entgegen, vermischt mit einem leichten Geruch nach Harz. Etwas entfernt nahm ich noch schwach das Menschenmädchen und den Werwolf war. Der Geruch des Rüden stieg mir beißend in die Nase und ich zog sie kraus. Seine Spur roch bitter, nach überreifen Haselnüssen und zerbissenen Knochen, außerdem nach dem leichten Geruch von Wasser, was seinen Geruch noch stechender machte.
Der Geruch des Menschenmädchens irritierte mich. Er roch nicht nach Mensch, nicht nach dieser verwirrenden, künstlichen Fährte, die jedem von ihnen anhaftete. Diese Spur, die ihre Verweichtheit ganz deutlich zeigte. Das Mädchen roch nach… Wald, Wildheit und Freiheit. Nach süßlichem Baumblut und herben Beeren. Ich zog die Augenbrauen verwirrt zusammen und blieb stehen. Ich hob witternd den Kopf und kniff die Augen leicht zusammen. Vermutlich witterte ich etwas anderes… jemand anderen… Ich hatte vorhin nicht auf ihren Geruch geachtet, hatte mich lediglich auf ihr Blut konzentriert, und das roch bei allen gleich, sowohl bei Menschen als auch bei den magischen Wesen, nur Dämonenblut roch anders. Wir waren selbst unter den magischen Wesen sonderbar. Nichts an uns war normal. Das war mir aber nicht wichtig. Mir war es sogar recht, dass ich beinahe gar nichts mit den Menschen gemeinsam hatte. Ich senkte den Kopf wieder und schaute auf den Boden, dann trieb ich meine Beine wieder voran. Meine Schritte wurden schneller, bis ich alles um mich herum nur mehr in einer einzigen grauen Fläche an mir vorbeiziehen sah, ich achtete nicht auf die kahlen Bäume die meinen Weg zu beiden Seiten säumten, und auch nicht auf den Schnee, über den meine Beine flogen. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich die ganze Umgebung erkennen können, aber ich wollte nicht. Es war mir nicht wichtig zu erkennen, wie die Landschaft rings um mich aussah. Ich hatte nicht vor, den Weg zurück wieder zu suchen, und selbst wenn ich es doch beabsichtigte zurück zu kehren, wollte ich den Pfad nicht mehr finden. Es ist besser so… redete ich mir ein, es war die Wahrheit. Ich musste weit weg von alledem. Weg von dieser Stadt, weg von den verhassten Menschen, weg von meinem Bruder und weg von der Wirklichkeit. Ich wollte tief in den Wald hinein, zu den Berghängen hinauf, dorthin, wo der Himmel beinahe die Bergspitzen berührte, und wo sich kein Mensch und kein magisches Wesen hinwagte.
Noch schneller trieb ich meinen Lauf voran, bis ich den Boden kaum mehr berührte. Ich schien zu fliegen, folgte dem Wind, wurde von ihm getragen, Ich vergaß für einige Momente meine Sorgen und konzentrierte mich einzig und allein auf meine Schritte, die kaum noch zu hören waren, so leise bewegte ich mich. Lange Zeit lief ich, und stürmte in Richtung der Hänge.
Plötzlich hielt ich an. Ich wusste selbst nicht wieso, aber eine seltsame Gewissheit sagte mir, dass ich mein Ziel erreicht hatte. Ich hatte, bis ich stehen geblieben war nicht einmal gewusst, dass ich eine Absicht gehabt hatte, aber jetzt war ich mir sicher, dass ich hier etwas wollte.
Ich sah mich um. Ich war immer noch im Wald, die Bäume standen dicht an dicht, und streckten ihre Äste in Richtung Himmel. Sie schienen nach den Wolken zu greifen und nach der Sonne, die schon tief am Horizont stand und beinahe die Gipfel der Berge berührte. Ich ließ meinen Blick an den kahlen Stämmen der Buchen entlang schweifen. Meine Augen blieben auf einem kleinen Felsen ruhen, vor dem ich stehen geblieben war. Irgendetwas an dem Stein irritierte mich. Er war in einem ganz gewöhnlichen fahlen Grauton und an manchen Stellen schon beinahe weiß, in der Mitte war ein seltsamer, bernsteinähnlicher Einschluss, das war, was mich durcheinanderbrachte. Ich ließ mich neben dem Stein auf die Knie sinken und legte die Handflächen an den Fels, es war Granit. Es fühlte sich seltsam an, wie warme… Haut… außerdem schien es gegen meine Handflächen zu Pochen. Es hob und senkte sich. Wie eine steinerne Brust, in der ein kleines Herz schlug, ein lebendiges. Ich strich an dem weißlichen Fels entlang und meine Finger begannen zu kribbeln, je näher ich an den bernsteinfarbenen Einschluss heran kam. Es kam mir vor, als würde ich unter Strom stehen. Ich kauerte mich so hin, dass mein Blick problemlos auf das gelblich – braune Gestein ruhen konnte. Das… war kein Fels... das war ein Loch! Darin war etwas…
Ich zögerte. Was, wenn es… etwas Magisches war? Was wenn es mich das Leben kostete in die kleine Höhle hinein zu fassen? Ja, was wenn…? Eigentlich war es mir egal. Scheute ich denn den Tod? Nein, das tat ich nicht und es machte mir nichts aus, wenn ich sterben musste. Der Tod war jedoch das einzige, dem ich noch ein Gefühl entgegen brachte. Nämlich Hass! Ich hasste ihn dafür, dass er mit mir seine Spielchen trieb. Zuerst stürzte er meinen Seelenträger ins Verderben, und ließ mich halb tot zurück, halb tot und seelenlos, dann verdammte er mich zu einem ewigen Leben, belastet mit einem dunklen Fluch.
Ich streckte die Hand nach dem bernsteinfarbenen Loch aus, doch noch bevor ich hinein fassen konnte durchzuckte mich ein brennender Schmerz, kalt und doch zugleich verbrennend. Mein Puls raste hinter meinen Schläfen, mir wurde beinahe schwarz vor Augen. Schnell zog ich mich wieder zurück und starrte auf das Loch, das gefährlich glühte. Ein rotes Licht. Das sich in meine Sicht brannte. Es war, als würde man zu lange auf hellen Schnee starren, als würde man erblinden. Rot trübte meine Sicht und hüllte mich schließlich vollkommen ein. Da war wieder diese seltsame Gewissheit, die mir sagte, dass ich mir den Inhalt des Loches nehmen sollte. Ich streckte die Hand aus, und zog sie sogleich wieder zurück. Erneut dieser erkaltete Schmerz. Ich biss die Zähne zusammen und ließ meine Finger langsam in den schmalen Spalt wandern. Ich ignorierte das immer brennender werdende Stechen und tastete nach dem, was da in den Fels eingeschlossen war. Schließlich ertastete ich etwas. Es fühlte sich an wie kaltes Metall, ich fand einen Griff, einen Dolchknauf, doch als sich meine Finger darum schlossen wurde der Schmerz zur unerträglichen Qual. Meine Finger verkrampften sich um das Eisen und ich konnte nicht mehr loslassen. Ich riss die Hand aus dem Spalt und richtete meinen flackernden Blick auf das, was ich krampfhaft mit der Hand umklammerte. Es war tatsächlich ein Dolch. Seine Klinge war leicht gebogen und auf beiden Seiten geschliffen. Sie lief zu einer tödlichen Spitze zusammen, die mit Leichtigkeit eine Sehne durchtrennen konnte. Die Schneide war jedoch nicht in einem metallischen Silber gefärbt, sondern schimmerte in einem seltsamen Bernsteinton. Darauf pochten dünne Adern in Rot, als würde Blut durch die Klinge zirkulieren, als fließe in ihnen das Blut des Bernsteins. Ein einziger Einschluss war in einem tiefen, undurchdringlichen Schwarz, dunkel wie die Nacht. Dieser eine, dünne Strich auf der Waffe strahlte so unwirklich, das ich glaubte, ich müsse träumen. Ich hatte das Aussehen des Dolches in wenigen Augenblicken erfasst, dann wurde ich von einer neuerlichen Welle aus brennendem Eis übermannt. Der Schmerz brach unaufhaltsam über mir zusammen und ich wurde in seinen Strudel gerissen. Ich versuchte meine verkrampften Finger um den Knauf der Waffe zu lösen. Doch meine Finger waren wie eingefroren, durch diesen brennenden Schmerz, der mich durchwalte. Ich schloss die Augen. Es war vorbei. Ich wusste nicht mehr wo der Flammenherd war, ich wurde von dem kalten Feuer in die Knie gezwungen. Ich sank in mir zusammen, mein Bewusstsein entglitt mir. Bald war ich tot, endgültig tot.
Gast- Gast
Re: Schattenhaft - der dunkle Spiegel in mir
Nach langer, langer Zeit, lass ich auch mal wieder was von mir hören, dafür gibts aber gleich mehr
3.Nacht
Unerklärlich
Es kam mir vor, als würde ich schweben. Ich spürte unter mir keinen Schnee mehr. Auch nicht den Fels in meinem Rücken, gegen den ich gesunken war.
Ich war noch nicht ganz bei Bewusstsein. Es war, als würden meine Sinne vollkommen abgeschaltet worden sein. Ich versuchte irgendeines meiner Glieder zu bewegen, doch meine Arme und Beine waren schwer wie Blei. Ich bemerkte, dass ich meine Hände verkrampft und zu Fäusten geballt hatte. Irgendetwas lastete in meiner linken. Ich wusste nicht was, auch wenn mein Verstand mir sagte, dass es sich um etwas handelte, dass ich sofort wieder loslassen musste. Ich versuchte meine Hand zu öffnen. Es gelang mir nicht. Als ich nach und nach begann meine verkrampften Muskeln zu entspannen stach mir ein heißer Schmerz in die Brust, ich keuchte auf. Schwarzer Nebel legte sich über meine Wahrnehmung und ich drohte wieder ohnmächtig zu werden. Der Schmerz breitete sich kriechend aus und hinterließ eine eingefrorene Spur, in der die Flammen züngelten. Ich konnte ein leises Aufstöhnen nicht unterdrücken und versuchte instinktiv mich zusammen zu krümmen um mich so klein wie möglich zu machen.
Ich hörte etwas. Ein Geräusch, weit entfernt und so leise, dass ich glaubte ich würde nur träumen. Der schwarze Nebel legte sich dichter um meine Augen und verschloss sie. Ich versuchte gar nicht erst, meine Lider zu öffnen, sie waren schwer, wurden mit gewaltiger Kraft nach unten gedrückt.
Plötzlich spürte ich nichts mehr, roch nichts mehr, hörte nichts mehr. Der Schmerz war ebenfalls verklungen, obwohl ich spürte, dass er noch da war, tief in mir schlummerte er. Warum hatte er sich zurück gezogen? Stand ich schon an der Pforte zum Tod?
Ich fühlte wieder etwas. Morsche Balken, auf denen ich lag. Etwas berührte flüchtig meine Hand, löste mit geringem Kraftaufwand meine verkrampfte Hand und nahm das heraus, was ich so verzweifelt umklammert hatte.
Der schwarze Nebel verflog. Nun war der Schmerz weg, er hatte sich vollkommen verzogen. Vorsichtig stützte ich mich mit den Unterarmen auf und versuchte meine Augen zu öffnen. Meine Lider flackerten, dann schlug ich sie auf. Zuerst sah ich nur verschwommen. Ich blinzelte. Meine Sicht wurde klarer, doch ich konnte immer noch nichts erkennen. Ich blinzelte ein zweites und ein drittes Mal. Schließlich sah ich, wo ich war. Ich lag auf dem Boden eines eingefallenen Hauses. Die morschen Balken, auf denen ich lag, knarzten als ich das Gewicht verlagerte, um mich auf die Knie zu stemmen. Ich kam mir seltsam schwach vor. Als hätte mir etwas meine gesamte Energie ausgesaugt. Wie ein Vampir, der seiner Beute das Blut raubte.
Doch ich war noch am Leben. War ich noch am Leben? Ich sah mich in dem alten Haus um. Ich kannte diesen Ort.
Zögernd prüfte ich die Luft, es roch nach gestorbenem Holz, das langsam verfiel. Nach bröckelnden Steinen, die bei einer flüchtigen Bewegung barsten und… nach etwas, das er nie wieder hatte wahrnehmen wollen. Es roch nach Schatten, nach Tod und… nach Sayeron. Sein Geruch war nur mehr schwach und wurde von den anderen Eindrücken überschattet, doch ich erkannte ihn mit einer solchen Gewissheit, dass mir beinahe speiübel geworden wäre. Ich schüttelte ruckartig den Kopf. Alles in mir wurde wieder wach. All die Erinnerungen an Sayerons Tod. Warum habe ich nichts getan? Warum bin ich nur tatenlos daneben gesessen? Warum habe ich ihn sterben lassen? Warum bin ich nicht mit ihm gestorben? All die Fragen, die ich seit… seit ich aus meinem Trance erwacht war verdrängt hatte schlugen über mir zusammen, wie hohen Wellen, wenn die Flut im Meer wütete.
„Es tut mir leid, dass ich dich hier her gebracht habe, aber es ging nicht anders…“
Ich schreckte herum, meine Zähne waren abwehrend gebleckt und ein drohendes Knurren schwoll in meiner Brust an. Ich blickte direkt in zwei blutrote Augen. Die, die mich angesprochen hatte, war mir bereits so nahe gekommen, ohne, dass ich etwas bemerkt hatte. Hätte ich sie nicht hören müssen, oder zumindest riechen?
Auch jetzt, wo ich mich auf sie konzentrierte und versuchte, ihren Geruch wahrzunehmen, konnte ich sie nicht erspüren. Sie hatte keine Fährte.
Ich wich zurück bis zur Hauswand, weiter kam ich nicht. Nun sah ich das seltsame Wesen ganz. Sie schaute mich unverwandt an, ohne den Blick auch nur eine Sekunde abzuwenden. Das Mädchen kauerte in kniender Haltung da, mit einer Hand stützte sie sich am Boden ab, in der anderen hielt sie etwas, ich konnte es nicht genau erkennen, da sie es halb verbarg. Sie war klein. Ihr Körper war so zart gebaut, dass sie noch zerbrechlicher wirkte als ein Mensch. Ich sah kein Blut durch ihre Adern fließen.
Immer noch ruhte ihr blutroter Blick auf mir. Sie hatte blasse Haut und war beinahe durchscheinend. Ihr nachtschwarzes Haar reichte, wenn sie stand, vermutlich bis zu ihren Knöcheln. Es war verfilzt und hing ihr in wirren Strähnen vom Kopf. Die meisten hatte sie hinter ihre Ohren zurück gestrichen, doch da sie den Kopf schiefgelegt hatte waren ihr einige wieder vor die Schulter gefallen.
Ihre Lippen waren ebenfalls aschfahl.
Sie trug ein weißes Kleid, über das sich jedoch Flecken eingetrockneten Blutes zogen. Über ihrer Schulter befand sich etwas ebenso Schwarzes wie ihre Haare, das ich jedoch nicht einordnen konnte, aber es stank stark nach Verwesung, und nach Tod.
Ihr Anblick erschreckte mich. Doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich hatte wieder meine kalte Maske aufgesetzt, die undurchdringliche Schatten über meine Züge warf und sie einfror.
Ich wich dem Blick der Fremden instinktiv aus, irgendetwas sagte mir, dass es nicht gut war, ihr in die Augen zu sehen.
„Du brauchst keine Angst zu haben… ich werde dir nichts tun…“, meinte sie. Ihre Stimme tönte sanft in meinen Ohren nach, doch der Klang jagte mir einen Schauer über den Rücken und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus.
Die Fremde kam in kauernder Haltung auf mich zu, als würde sie versuchen ein scheues Tier zu beruhigen. Als sie kaum mehr zwei Schritte von mir entfernt war ließ sie sich auf den Boden sinken. Ihr Kleid breitete sich um sie aus und ihre Haare wallten ebenfalls zu Boden. Es sah aus, als wäre sie unter Wasser. Erneut lief es mir kalt den Rücken herunter.
„Warum bin ich hier? Was willst du von mir?“, fragte ich, meine Stimme war kalt wie immer, auch wenn sie ein wenig zitterte.
„Du warst bewusstlos… hätte ich dich liegen lassen sollen…?“ Die Fremde schien mich nicht ernst zu nehmen, oder zu wissen, was ich bin… Ihre Augen blitzten kurz auf. Als hätte sie meine Gedanken erraten stieß sie ein zischelndes Fauchen aus, und meinte wie eine gereizte Schlange: „Ich weiß was du bist… vermutlich besser als du…“
Ich verzog keine Miene, bewegte keinen Muskel. Meine Augen waren unverwandt auf die Fremde gerichtet, wobei ich ihr jedoch nicht in die Augen sah.
„Wie heißt du, Dämon?“, fragte sie und ließ sich nach vorne auf die Knie sinken, sodass sie mir ganz nahe war. Ich konnte ihren Atem beinahe auf meiner Haut kitzeln spüren. Ich zuckte unmerklich zusammen, doch ich konnte nirgends hin vor ihr zurückweichen ich lehnte bereits an der Wand.
„Mieron…“, entgegnete ich, meine Stimme klang nun zusätzlich noch herablassend, damit überspielte ich aber lediglich, dass es mir nicht geheuer war, diesem seltsamen Wesen so nahe zu sein, dass ich ihren Geruch hätte überdeutlich wahrnehmen müssen. Wenn sie einen Geruch hätte.
„Ist das dein ganzer Name?“, hakte sie weiter und fing meine Augen ein. Sie ließ sie nicht mehr frei. Immer tiefer bohrte sie ihren blutroten Blick in meinen, als würde sie direkt auf den Grund meiner Gedanken sehen und mein ganzes Bewusstsein mit nur einem Aufblitzen ihrer Iris gefangen nehmen.
„Ja…“, bekräftigte ich, es war nur aus Trotz, dass ich den Namen des Dämons nicht nannte.
„Sicher?“, fragte sie noch einmal. Sie gab meinen Blick immer noch nicht frei. Sie rückte erneut ein Stück näher, sodass der Abstand zwischen uns auf wenige Zentimeter zusammenschrumpfte. Sie legte eine Hand an meine Wange. Ihre Haut war eiskalt, sogar für mich, und meine Körpertemperatur war kälter als die eines Vampires, die Fremde war kälter als Eis. „Mieron Norvas…“
Ich zuckte zurück und stieß ihre Hand unsanft weg, es kam mir vor, als würde ich durch sie hindurch fassen, oder nur ein verdorrtes Blatt berühren, aber keines falls etwas, dass eindeutig annähernd menschlich war. Ich wollte ein lautes Knurren ausstoßen, um sie zu warnen, mir nicht noch einmal so nahe zu kommen, doch es erstarb, noch bevor es in meiner Brust angeschwollen war. Meine Augen wurden immer noch von den ihren gefangen gehalten.
„Sch-sch…“, zischelte sie und legte die Hand erneut an meine Wange, sie strich langsam an meiner Schläfe auf und ab. Es war keine sanfte, beruhigende Geste, sondern sie war besitzergreifend und befehlend. Ich rührte mich nicht.
„Was. Soll. Das?“, presste ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. Die Fremde nahm die Hand wieder zurück und betete sie in ihren Schoß, sie legte auch die andere auf ihre Knie, in ihr hielt sie einen Dolch, den Dolch, den ich in dem Fels gefunden hatte…
„Ich will dir nur helfen, Mieron Norvas…“
Endlich gab sie meinen Blick wieder frei, ich atmete aus, gleich darauf zischte ich jedoch forsch. Warum musste sie mich zusätzlich noch mit dem Namen des Dämons ansprechen?! Woher wusste sie den Namen des Dämons überhaupt?
„Helfen…“, höhnte ich fauchend. Mein Blick wanderte zu dem Dolch und ich bleckte die Zähne, warum wurde dieses seltsame Wesen nicht von Schmerzen geplagt, wenn sie die Waffe berührte?
Sie ging nicht auf meine offensichtliche Abgeneigtheit ein, sondern lächelte mich mit einem verschlagenen Zucken um die Mundwinkel an.
„Der Dolch kann mir nichts tun…“, meinte sie, ihre Stimme zeigte keinen Ausdruck, war jedoch nicht kalt.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und funkelte sie ablehnend an.
Die Fremde ließ ihre Finger über die Klinge des Bernsteindolches wandern, ich beobachtete wie ihre Hände sich um die Klinge schlossen.
„Was tust du da?“, erkundigte ich mich. Ich war nicht daran interessiert, was das fremdartige Wesen tat, aber ich fragte trotzdem nach, ich wusste nicht wieso.
„Nichts…“, meinte sie schulterzuckend und drückte die Hände zusammen. Ich hielt die Luft an, in Erwartung darauf, dass mir der unverkennbare Geruch von Blut entgegen schlug. Doch nichts geschah.
Die Fremde lachte schallend auf, es klang als hätte sie den Verstand verloren. Sie öffnete die Hand. Keine einzige Schnittwunde zog sich über ihre Handflächen. Nicht der kleinste Kratzer, obwohl ich deutlich gesehen hatte, wie sie so fest zugedrückt hatte, dass ihr die Klinge ins Fleisch hätte schneiden müssen.
Plötzlich schnellte ihr freier Arm vor wie eine Schlange und sie packte mich um das Handgelenk. Ich bemühte mich keine Regung zu zeigen, sah sie jedoch nicht an. Sie betrachtete einige Augenblicke lang die Pulsader, die gleichmäßig pochte, da ich die Hand zur Faust geballt hatte. Sie fuhr mit ihrem Fingernagel an dem Blutgefäß entlang und ritzte leicht in die Haut ein.
Nichts geschah. Jetzt war ich es, der hart auflachte. Es war ein verachtendes, überhebliches Lachen. Man konnte einen Dämon nicht verletzten!
Sie zeigte keine Reaktion auf meine Arroganz, sondern legte die Schneide des Dolchs an meinen Arm. Noch bevor die Klinge im meine Haut eindrang durchzuckte mich ein heißer Schmerz, wie ein Stromschlag. Es war derselbe Schmerz, der mich übermannt hatte, als ich den Dolch aus der Felsspalte geholt hatte. Ich biss die Zähne hart aufeinander, sodass es ein lautes Knirschen verursachte.
Ein kurzes Lächeln spielte um die Lippen der Fremden, doch es war nicht spöttisch, sondern… sanft, beinahe… liebevoll… Ich verzog das Gesicht angewidert und bleckte die Zähne.
Sie ließ die Klinge in meine Haut gleiten, hindurch bis zum Fleisch.
Ich hätte beinahe aufgeschrien, doch ich unterdrückte einen Schmerzenslaut. Dort wo der Dolch in meinen Arm geritzt hatte fuhr ein scheußlicher Schmerz durch meine Adern. Brennende Kälte floss wie Strom durch mich hindurch und lähmte meine Glieder. Ich lenkte meinen Blick auf meinen Arm, auf dem immer noch die Bernsteinklinge ruhte. Blut quoll aus der Wunde, strömte mir über die Hand und tropfte zu Boden. Doch es war nicht rot, es war pechschwarz, wie die dunkelste Nacht, ohne einen einzigen Lichtschimmer.
Die Fremde lächelte mich immer noch sanft an. Sie nahm die Klinge von meiner Haut und wischte sie an ihrem Kleid ab.
Ich ignorierte sie und presste die Hand auf die Wunde. Bald war auch meine andere Hand von schwarzen Blutspuren überzogen und meine Kraft schwand.
Ich schloss die Augen. Mein Atem ging flach und keuchend und ich musste immer wieder ein leises Aufstöhnen unterdrücken. Ich spürte etwas Kühles auf meiner Hand, mit der ich immer noch verzweifelt versuchte die Blutung zu stoppen. Sie wurde weggeschoben und plötzlich war der Schmerz weg, auch wenn er mir noch ein letztes Mal durch den Arm schoss und mich aufstöhnen ließ. Ich biss die Zähne zusammen und öffnete die Lider einen Spalt breit.
Meine Sicht war verschwommen und es kam mir vor, als würde sich alles um mich herum in rasendem Tempo drehen. Schnell kniff ich die Augen wieder zusammen, doch das Schwindelgefühl wollte nicht verschwinden. Ich sackte nach hinten und blieb an die Wand gelehnt sitzen.
Ich zitterte am ganzen Körper. Der Kraftverlust machte mir stark zu schaffen. Ich durfte jetzt nicht in die Bewusstlosigkeit hinüber rutschen. Ich musste wach bleiben. Ruckartig schüttelte ich den Kopf. Immer noch drehte sich alles in meiner verworrenen Wahrnehmung. Ich versuchte erneut meine Lider zu heben.
Der Schwindel ebbte langsam ab, trotzdem bebte mein Körper anhalten.
Die seltsame Fremde saß vor mir und schaute mich unbeirrt an. Sie zeigte kaum Regungen, lediglich ein leises Lächeln spielte um ihren Mund und sprang in ihre Augen über wie Funken.
Ich knurrte.
Sie legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue fragend hoch, als wüsste sie nicht, was sie mir getan haben sollte.
Ein erneutes Knurren entfuhr mir.
Die Fremde kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und funkelte mich für den Bruchteil eines Augenaufschlags lang an, dann wurde ihr Blick wieder sanft, als wollte sie ein verschrecktes Kleinkind davon überzeugen, dass sie ihm nichts tat. Diese Annahme bekräftigte sie noch, als sie ihre Hand auf meine legte und vorsichtig darüber strich, damit ich sie entkrampfte und die Faust öffnete, zu der ich sie geballt hatte. Als ich mich nicht gleich entspannte drückte sie die Finger vorsichtig auf meine Wunde, sodass ich die Hand schließlich bereitwillig öffnete, da der Schmerz mich sonst wieder in die bodenlose Leere der Bewusstlosigkeit riss. Ich sah zu der Schnittverletzung, die mit einer feinen Schicht aus Eis versiegelt zu sein schien, die aus hunderten Kristallen bestand, die sich ganz deutlich darunter abzeichneten, als wäre es kein Eis, sonder lediglich Raureif. Doch die Kruste war zu dick, außerdem roch sie nach Winter und schläfriger Kälte. Ich schüttelte resigniert den Kopf und lenkte meinen Blick wieder auf die Fremde, die scheinbar in Gedanken versunken die Linien auf meiner Handfläche nachfuhr. Sie hielt die Bernsteinklinge immer noch in den Fingern. Jetzt steckte sie mir die Waffe in die Manteltasche, wobei sie mit der Hand einen Moment lang über meinem Brustkorb verweilte, dort wo eigentlich mein Herz hätte sein müssen, wenn ich eines hätte, und berührte die Stelle flüchtig mit der Spitze der Schneide, dann ließ sie in meinen Trenchcoat gleiten. Dass ich den Dolch so nahe bei mir trug belastete mich und schien mich nach unten zu ziehen in eine noch größere Finsternis als die, in der ich mein ganzes Leben verbracht hatte, so kam es mir zumindest vor. Als die Fremde ihre Finger wieder aus meiner Tasche genommen hatte legte sie mir besitzergreifend die Hände auf die Schultern. Immer noch tanzte ein Lächeln über ihre Züge.
Genau wie in den ersten Augenblicken hier nahm sie meinen Blick gefangen und gab ihn nicht frei. Ich saß hilflos da und konnte keinen Muskel bewegen.
„Dich kann die Klinge jedoch problemlos verletzen...“, meinte sie und ihre blutroten Augen blitzten leicht auf. Mein Blick war einzig und allein auf ihre flackernde Iris gerichtet und es schien mir, als würde ich von einem Inferno auf züngelnden Flammenzungen eingehüllt werden. Benommen schüttelte ich den Kopf und versuchte meine Augen von ihr zu reißen. Es funktionierte nicht.
„Was ist das für eine Waffe? Eine der Dämonenjäger?“, brachte ich schließlich hervor. Meine Stimme war kalt wie immer. Seltsamerweise.
Die Fremde lachte leise. Es war ein glockenhelles Kichern. „Nein… dieser Dolch…“, sie zog meinen Blick noch tiefer in ihren Bann, „… gehört dir!“
Ich stockte. Ich hatte noch nie einen Dolch besessen. Die einzige Waffe, die ich jemals getragen hatte war das gebogene Jagdmesser meines Vaters gewesen, von jenem Vater, den ich nie kennen gelernt hatte.
Ich betrachtete die Spitze des Dolchs, die ich in meiner Manteltasche noch ausmachen konnte. Das Ende der Klinge war leicht gekrümmt.
Meine Augen weiteten sich. Es gab wenige Dolche, die einen beidseitigen Schliff trugen und gleichzeitig am Kopf gebogen waren.
„Ganz recht, es ist die Klinge deines Vaters… doch sie wurde mit einem Fluch belegt…“
Ein Fluch. Schwarze Magie. Mein Kopf begann wieder zu schwirren.
„Genau wie du…“, setzte die Fremde noch hinterher. Genau wie ich… Ich war verdammt, verdammt zu einem ewigen Leben, doch ich war immer der Meinung gewesen, ich sei der einzige, der das so sah. Ich hatte mein ganzes Dasein oft als Fluch bezeichnet, doch bis jetzt war ich immer der einzige gewesen, der das getan hatte. Was sollte das jetzt also?
Doch was mich nun mehr interessierte, als die Tatsache, dass mich dieses seltsame Mädchen als Verdammten ansah war, dass sie behauptete, auf diesem Dolch… dem Jagdmesser meines Vaters… sollte ein Fluch lasten…
„Was für ein Fluch liegt auf der Waffe?“, fragte ich langsam und starrte auf die Klinge, die in meiner Tasche leicht golden aufblitzte. Ich bemerkte erst jetzt, dass die Fremde meinen Blick wieder freigegeben hatte.
„Ein Dunkler, sehr Mächtiger… der dich zu etwas Besonderem macht…“
Ich glaubte nicht, dass diese Worte auf die Stichwaffe bezogen waren, doch ich konnte mir beim besten Willen nicht ausmalen, was sie damit meinte.
Plötzlich sah ich zwei tiefrote Augen in den Haaren der Fremden aufblitzen und eine raue, kratzige Stimme erklang, die von den vermoderten Wänden der alten Hütte wiederhalte und noch lauter in meinen Ohren dröhnte: „Akyira, halt dich zurück!“
Ein schwarzer Schatten löste sich von der Schulter des seltsamen Mädchens und landete am Boden. Rote Augen funkelten bedrohlich in meine Richtung, sie gehörten einem schwarzen… Frettchen… Das war das dunkle gewesen, das auf der Schulter der Fremden, Akyira war also ihr Name…, gelegen hatte und so stark nach Verwesung und Tod stank. Ich wagte es nicht, den Geruch noch einmal einzuatmen, da ich Angst davor hatte etwas wahrzunehmen, dass ich nicht wissen wollte. Der Körperbau des Frettchens kam mir bekannt vor, es war ein wenig größer, als eines der normalen wieselähnlichen Tiere, trotzdem war es sehr schlank.
Ich wollte den Gedanken abschütteln, der sich nun bei mir einschlich, doch es war zu spät. Wenn Sayeron nun doch nicht… tot war? Was, wenn er…
„Das ist nicht dein Seelenträger, Mieron!“, zischte Akyira und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. Ich blinzelte verwirrt und starrte das Mädchen perplex an.
„Nicht mehr…“, meinte das Frettchen und bleckte die Zähne zu einem dämonischen Grinsen.
Was hatte das alles zu bedeuten? Wer waren diese beiden Wesen? Was waren diese beiden Wesen? Was wollten sie von mir? Und warum mussten sie mich ausgerechnet hier her bringen?
„Aenukon, du jagst ihm Angst ein, sei einmal ein wenig einfühlsam…“, schalt Akyira das schwarze Frettchen. In ihrer Stimme lag trotzdem ein gewisser Respekt, was dadurch bekräftigt wurde, dass sie leicht den Kopf vor ihm gesenkt hielt und seinen Blick vermied. Die Augen des Frettchens waren in einem noch stechenderem Rot als die des Mädchens, doch die Ränder der Iris waren in ein tiefes Schattenschwarz getaucht.
„Er soll auch Furcht lernen… das ist besser für ihn…“ Aenukon ließ seine Zähne bedrohlich aufblitzen, was in starken Konflikt zu seinen ruhig ausgesprochenen Worten stand, obwohl mir diese Ruhe noch weniger behagte.
Akyira packte das Frettchen am Nackenfell, sie war jedoch in keiner Weise grob, sondern hob ihn beinahe schon vorsichtig auf und verließ mit ihm in der Hand den Raum. Im Hinausgehen zischte sie mir noch zu: „Du bleibst hier!“ Ich nickte resigniert und zog die Beine an. Ich umschlang sie mit meinen Händen. Das Kinn betete ich auf meine Knie.
Ich musste meinen Kopf Schritt für Schritt wieder klar bekommen, also ging ich alles noch einmal von Anfang an durch.
Ich hatte den Dolch in einem gewöhnlichen Felsen gefunden, war durch seine Berührung ohnmächtig geworden und war hier wieder aufgewacht… Die Frage war, wie war ich hierher gekommen? Es war mir vorgekommen, als wäre ich geschwebt… Hatte mich vielleicht jemand getragen? War noch eine dritte Person hier? Ich prüfte die Luft, was vollkommen unsinnig war. Ich roch nur Verwesung und die kalten Schatten des Todes, sonst nichts, abgesehen von Sayerons schwacher Fährte, die jedoch von allem anderen überdeckt wurde. Selbst wenn noch jemand hier war, wenn er ein ähnliches Wesen wie Akyira war, konnte ich ihn sowieso nicht wahrnehmen. Weder riechen, noch hören…
Ich war mir sicher, dass mich jemand hierher gebracht haben musste… wie war mir unklar…
Als nächstes war da das seltsame Mädchen selbst. Sie sah kaum älter aus als elf, war klein und zierlich und jagte mir trotzdem mehr Angst ein, als es ein Werwolf getan hätte. Mich wunderte, dass sie mir überhaupt eine Emotion entlocken konnte, aber Furcht war das letzte, von dem ich erwartet hatte, dass ich es jemals wieder empfinde. Ich wusste nicht, was sie war, konnte es nicht einmal erahnen. Sie war gewiss keine Sylunée, auch wenn es für ungeschulte Augen danach aussehen konnte, als sei Aenukon ihr Seelenträger. Aber ich konnte nicht diese unbrechbare Verbindung zwischen den Beiden spüren, so wie sie bei Arkaras und Aylea bestand, ich konnte gar kein Band zwischen den Beiden erfühlen. Nach dem, was ich über so etwas wusste dürften sie sich eigentlich gar nicht beim Namen nennen können. Den Wesen, die nicht mit dem anderen auf eine schwache Art Verbunden waren durften den anderen nur bei seinem menschlichen Namen ansprechen. Sie durften den Magischen zwar erfahren, doch niemals aussprechen, sonst wurden sie bestraft… niemand wusste wie, aber es war so…
Warum durften die Beiden mich bei meinem Namen nennen? Ich spürte, dass ich das bei den Beiden ebenfalls durfte, aber wieso? Sie waren mir von ihrem Wesen her völlig unbekannt, ich wusste nicht einmal, was sie waren…
Ich fand auch bei diesem Gedankengang zu keiner Lösung, also beschloss ich einen anderen zu verfolgen.
Das Nächste, was mich verwundert hatte war, dass Akyira den Namen des Dämons gekannt hatte, obwohl ich ihn ihr nicht genannt hatte…
Ich brach die Überlegung sofort wieder ab, da ich bezweifelte, dass ich dabei auf etwas kam, dass mir weiterhalf, und mich nicht noch mehr verwirrte.
Akyira hatte generell die meiste Zeit gewusst, was mir durch den Kopf gegangen war, was eines der Dinge an dem seltsamen Mädchen war, das mir immer wieder einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
Ich verscheuchte auch diese Gedankenfolge und kam zu dem Punkt, der mein Interesse am meisten anzog und mich zugleich am stärksten abschreckte.
Der Dolch, der Dolch meines Vaters, der nun in meiner Manteltasche lag und dessen Last ich unaufhörlich fühlte…
Die Klinge war mit einem Fluch belegt, behauptete Akyira zumindest… Mit was für einem Fluch? Warum? Was hatte mein Vater getan oder… was hatte ich getan…? Ich hatte dieses Jagdmesser ein einziges Mal getragen. Damals war die Schneide in ein einfaches Silber gefasst gewesen, gewöhnliches Metall.
Ich hatte die Waffe ohne die Erlaubnis meiner Mutter aus der Truhe genommen, in der sie die Dinge aufbewahrt hatte, die mein Vater zurückgelassen hatte, als er nach meiner Geburt verschwunden war. Spurlos, ohne ein Wort. Ich war gerade einmal elf geworden und hatte meinen Seelenträger noch nicht getroffen. Ich war ein ganz normaler Mensch. Arkaras war damals bereits achtzehn gewesen und war in seiner Alterung stehen geblieben. Er hatte mich immer damit aufgezogen, dass ich ein schwaches Menschlein war, und dass ich mich nicht alleine durchschlagen könnte.
An diesem Tag wollte ich ihm beweisen, dass ich sehr wohl in der Lage war, auf mich selbst acht zu geben. Ich schnappte mir den Dolch und lief aus dem Haus, in Richtung Wald. Ich wollte auf die Jagd gehen. Wollte einen Hirsch, oder einen Elch erlegen, damit ich Arkaras beweisen konnte, dass ich nicht nur ein unbeholfener, kleiner Mensch war.
Doch auch wenn ich es nicht wahrhaben hatte wollen, ich war noch jung, nicht ausgewachsen und für ein magisches Wesen sowieso nur ein Kleinkind, dass seine Fähigkeiten noch nicht entdeckt hatte. Trotzdem war ich an diesem Morgen aufgebrochen. Noch bevor die ersten Strahlen der Sonne über die Ränder der Berge geschaut hatten, war ich in den Wald gelaufen.
Bald war ich auf die Spuren eines großen Huftieres gestoßen, ein Reh, oder ein Hirsch vermutlich… ich hatte es aber nie erfahren…
Kaum war ich der Spur einen halben Sonnenlauf lang gefolgt, wurde mein Weg von etwas anderem gekreuzt.
Von einem Vampir.
Mit einem kurzen Blick hatte er erkannt, dass ich kein gewöhnlicher Mensch war, auch wenn ich den Anschein danach machte. Er hatte mich umkreist, wie ein Tiger seine Beute und war mir in engen Schlingen immer näher gekommen.
Eigentlich war es erstaunlich, dass er mich am Leben gelassen hatte, doch als ich seinen Blick gesucht hatte, um seine Absichten vollends einschätzen zu können, hatte er seine Augen weit aufgerissen und war weggerannt.
Ich hatte den Dolch meines Vaters gezogen, doch da ich unter Schock gestanden war, ließ ich ihn einfach fallen und rannte, so schnell mich meine Beine trugen zurück nach Hause.
Seit diesem Tag hatte ich die kleine Klinge nie wieder in Händen gehalten. Erneut ließ ich meinen Blick zu der Waffe schweifen, die in meiner Tasche lag. Der Bernstein stach mir wieder blendend in die Augen und die roten Adern schienen mich in ihren Bann zu ziehen. Desto länger ich auf den Dolch sah, desto schwerer fühlte er sich in meiner Tasche an.
Bevor ich weiter über all die Dinge nachdenken konnte, die mir unaufhörlich im Hinterkopf lagen vernahm ich, wie Akyira mit Aenukon wieder zurückkam. Ich hob den Kopf und wandte meinen Blick, der nun wieder ganz leer war zu den Beiden. Jetzt lief das Frettchen voran. Es bewegte sich schnell und seine Bewegungen wirkten selbstsicher. Er machte trotzdem, dass er im Körper eines kleinen Tieres war den Eindruck, dass man ihn nicht unterschätzen sollte.
„So, Mieron…“, meinte Akyira und ließ sich neben mir auf die morschen Balken sinken. Ich kniff die Augen zusammen, ich hatte, als die Beiden den Raum wieder betreten hatten, nicht auf das Mädchen geachtet, dadurch war ich jetzt umso verwirrter. Sie sah verändert aus. Ihre Gesichtszüge waren härter geworden und sie schien auch größer und nicht mehr ganz so kindlich. Ihrem Aussehen nach zu urteilen hätte sie in etwa vierzehn sein müssen. Ich ließ mir nichts von meiner Verwirrung anmerken und lehnte den Kopf an die zerfallene Mauer, von der ich nicht genau sagen konnte, ob sie nun aus gräulichem Holz oder Stein gemacht wurde, da ihr Geruch durch die starke Verwitterung nicht mehr zu erkennen war und ich konnte auch nicht fühlen, was es war.
Ich beschäftigte mich nicht weiter mit meiner Umgebung, sondern konzentrierte mich auf die beiden Wesen, die mich aus ihren stechend roten Augen heraus ansahen.
„Wir wissen, dass das alles zu viel auf einmal für dich ist… aber du musst nicht begreifen, du musst nur tun, was wir dir sagen und alles wird gut…“, säuselte Akyira und stützte die Hände links und rechts neben meinen angewinkelten Beinen ab, sodass sie direkt vor mir saß und mir keinen Ausweg mehr ließ.
Ich sollte tun, was sie sagten. Sollte ihnen gehorchen?! Niemals. Ich war immer noch frei, soweit man jemanden, der in seinem eigenen Geist gefangen war, als fessellos bezeichnen konnte.
Für den Bruchteil einer Sekunde wandte ich den Blick ab, dann sah ich wieder direkt in Akyiras blutrote Augen. Sie war mir noch näher gekommen und ich spürte, dass sie mich nicht wiedersprechen lassen würde. Sie würde meinen Protest ersticken, noch bevor ich ihn völlig ausgesprochen hatte.
Ich kam mir erneut vor, wie ein Gefangener.
Niemand sagte etwas, die Beiden schienen darauf zu warten, dass ich zustimmte, mich ihnen wehrlos ergab. Mein Blick zuckte kurz zu Aenukon, der mit steinerner Miene zu uns sah und keinen Muskel bewegte, so erweckte er noch mehr den Anschein tot zu sein. Sein brennend roter Blick war auf mich gerichtet, obwohl es eher schien, als würde er durch mich hindurchsehen, auf etwas anderes, das hinter mir lag. Ich wandte mich wieder Akyira zu, die langsam ungeduldig zu werden schien. Ein leichtes, selbstgefälliges Zucken schlich sich in meine Mundwinkel ein.
„Warum sollte ich tun, was ihr sagt?“, fragte ich mit ungehaltener Verachtung in der Stimme. „Es ist besser für dich…“, entgegnete mir das Frettchen an Stelle von Akyira. Ich schüttelte nur resigniert den Kopf. Mir war zwar klar, dass ich diese Diskussion nicht gewinnen konnte, aber trotzdem wollte ich nicht kampflos aufgeben, auch wenn nichts da war, für das sich das kämpfen lohnte.
Akyira stieß ein verächtliches Zischen aus, das klang wie eine gereizte Schlange und ihre Hand schnellte mit unvorstellbarer Geschwindigkeit vor und packte mich im Nacken.
Sie legte die Lippen an mein Ohr und meinte in einem gefährlich ruhigen Flüsterton: „Hör mir mal genau zu.“
Das Mädchen verstärkte den Griff in meinem Nacken sodass ich die Zähne zusammenbeißen musste, damit mir kein Schmerzenslaut entfuhr, doch ein leises Aufstöhnen konnte ich trotz der Bemühungen nicht unterdrücken. Eine kurze, flackernde Regung tanzte über Aenukons Maske, es waren Spott und Verachtung.
Ich stieß ein hartes Fauchen aus und versuchte, Akyiras Hände aus meinem Nacken zu lösen, doch sie wollte ihren Griff nicht lockern. Stattdessen brachte sie ihr Gesicht so nahe an meines, dass ich ihre blutroten Augen direkt im Blick hatte und nichts anderes mehr sehen konnte. Wieder war sie so besitzergreifend. Es schreckte mich ab, dass ich so gar nichts dagegen tun konnte, ich konnte nur dasitzen und ihr in die Augen sehen, die den meinen so nahe waren.
„Akyira…“, tadelte Aenukon mit abwesender Stimme und warf ihr einen kurzen, aber eindeutigen Blick zu. Das Mädchen ließ meinen Nacken, den sie immer noch umschlossen hielt, los und zog sich ein wenig zurück, ihre Augen waren auf die verfallen Bodenbalken gerichtet. Akyira entfuhr ein leises Fauchen und sie zischelte etwas auf einer abgehakt -klingenden, fremden Sprache. Mein Blick zuckte zwischen Aenukon und dem Mädchen hin und her und ich hob beinahe unbewusst eine Augenbraue. Irgendetwas sagten mit die Worte, die Akyira murmelte. Es kam mir vor, als hätte ich sie selbst schon oft ausgesprochen… vor langer Zeit… vielleicht sogar in einem anderen Leben…
„Verzeih, wenn sie ein wenig… aufdringlich… wirkt, sie ist erst wenige Stunden alt…“, riss Aenukon mich aus meinen Gedanken. Akyira hatte sich nun ganz zurückgezogen und hatte die Hände auf ihr gräulich – weißes Kleid gebetet. Ihr Blick zuckte für einen kurzen Moment zu mir, und ich glaubte so etwas wie Enttäuschung darin sehen. Meine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als ich diesen seltsamen Ausdruck auf ihren Zügen sah.
Das Mädchen schien mein Unbehagen zu spüren und schlug die Augen sofort wieder nieder, sodass ich die Ränder ihrer Iris gerade noch erahnen konnte.
Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Aenukon und befasste mich erst jetzt wirklich mit den Worten, die er mit dieser eigenartigen Ruhe ausgesprochen hatte. Wenige Stunden? Ich hatte zwar bemerkt, dass Akyira, die zu Beginn dieser Begegnung ausgesehen hatte wie elf nun eher wirkte wie vierzehn, doch ich hatte nicht gedacht, dass sie die ganze Zeit so rasend schnell gealtert war. Ich wusste von Wesen, deren Alterung beschleunigt war, doch ich hatte noch nie mit etwas zu tun gehabt, dass so schnell wuchs. Das war absolut unmöglich.
„Wer seid ihr?“, fragte ich langsam, meine Stimme war trocken und ich zeigte nicht wirklich Interesse, auch wenn diese Frage wohl das einzige war, dass meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich hätte mich eigentlich lieber danach erkundigt was sie waren, aber diese Antwort würde ich hoffentlich auch so erhalten.
„Ich wurde auf den Namen Aenukon getauft, das war aber nicht das, was du wissen wolltest...“, das Frettchen formulierte seine Worte eher als Feststellung, als als Frage und ich hatte auch nicht vor zu antworten.
„Es ist nicht wichtig, wer oder was wir sind, wichtig ist, dass du etwas für uns tun kannst, besser gesagt tun musst…“, fügte Akyira zischend hinzu, sie hatte sich wieder ein wenig aufgerichtet, da sie, als Aenukon sie zuvor zurecht gewiesen hatte ein wenig in sich zusammengesunken war.
Da war wieder dieses „du musst“, als würde ich ihnen gehören, als würde ich ihre Befehle ausführen… als wäre ich ihr Diener… Doch anstatt Akyiras Worte sofort wieder auszuschlagen, meinte ich: „Und was könnte ich für euch tun?“
„Nun, wir haben etwas vor… und dazu brauchen wir das Blut einer Vampirin…“, begann das Mädchen zu erläutern, ihr Blick blieb auf die Bodenplatten gerichtet, da sie sich scheinbar immer beschämt darüber war, was sie getan hatte, oder was sie im Begriff war zu tun… ich wusste es nicht…
Ich ließ mir ihre Worte durch den Kopf hallen. Das Blut einer Vampirin? Vampire hatten doch gar kein Blut…
„Sie ist, genau gesagt eine Halbvampirin und wir benötigen ihre Blutdienste für einen Fluch… es ist nicht von Belang für was genau, du musst nur wissen, dass du schnell handeln musst…“, fügte Aenukon an, der mir nun näher war als Akyira. Er tauschte einen kurzen Blick mit mir aus, dann wandte er seine blutigen Augen wieder ab.
Ein kurzes Bild durchzuckte meinen Geist, nur wie eine sanfte Berührung. Eine kurze Vision, die sich jedoch tief in meinem Bewusstsein verankerte. Ein lächelndes Gesicht, vor Freude sprühende Augen und der offensichtliche Spaß am Leben… die erst Reaktion, die mich durchzuckte war Abscheu, die sich gleich darauf in Verachtung umwandelte. Erst nachdem ich schon Hass auf diese fremde Halbvampirin entwickelt hatte begutachtete ich ihr Bild genau.
Sie hatte lange Haare, deren Farbe in diesem Licht von einem stark abgeschwächten Kastanienbraun, durchzogen von feinen, blass goldenen Strähnen war. Sie vielen ihr in lockeren Wellen über die Schultern und reichten ihr bis zur Taille.
Ihr Gesicht war schmal und zierlich. Ihre hohen Wangenknochen zeichneten sich leicht unter ihrer dünnen Haut ab, die in einem leichten Olivton schimmerte. Ihre Lippen waren ebenfalls so aschfahl wie ihr Gesicht, jedoch waren sie voll und kräuselten sich in einem perfekten Lächeln.
Diese Halbvampirin… sie war das Wesen, dass mich am heutigen Morgen beinahe um den Verstand gebracht hätte…
Das kam mir gerade Recht.
Einer meiner Mundwinkel zuckte zu einem grimmigen Lächeln nach oben und ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Aenukon und Akyira.
„Nun, was sagst du, Dämon?“, erkundigte sich das Frettchen mit einem Klang in der Stimme, der mich bezweifeln ließ, dass es ihn wirklich interessierte, ob ich zusagte, oder nicht.
Gerade wollte ich entgegnen, dass ich darauf einging, als Aenukon mich Dämon nannte. Ich fuhr hoch, meine Zähne waren gebleckt.
„Ich bin nicht der Dämon!“, zischte ich wütend und funkelte Aenukon mit blitzendem Blick an.
„Schon gut, reg dich ab…“, winkte das Frettchen nüchtern ab und wandte seine Augen das erste Mal ganz auf mich. Mein Blick streifte seinen für einen kurzen Augenblick und ein Schauer jagte mir, wie ein unangenehmer Kälteschock über den Rücken.
Ich ließ mich wieder an den Blanken nach unten sinken.
„Ich werde euch die Halbvampirin bringen…“, meinte ich mit grimmiger Vorfreude in der ansonsten tonlosen Stimme.
„Das ist erfreulich zu hören!“, säuselte Akyira, die mir mittlerweile wieder näher war, als Aenukon, da dieser sich zurückgezogen hatte und den Blick aus dem Fenster gerichtet hielt, das gleichmäßig von einem Sprung gebrochen war, der sich vom oberen Ende gleichmäßig bis zur unteren Ecke zog.
„Ich werde dich keinen Schwur leisten lassen, dass du es auch wirklich tust, da ich dir im Augenblick noch mein Vertrauen schenke, aber wenn du mich enttäuschst…“
Das Frettchen ließ den Satz offen stehen, doch ich konnte mir denken, was er ausdrücken wollte.
Kurz starrte ich auf den Boden, um mich zu sammeln. Als ich meinen Blick hob waren Aenukon und Akyira verschwunden. Einige blutrote Nebelschwaden schlängelten in dünnen Fäden über den Boden und lösten sich allmählich auf.
Ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen, konnte mir aber nicht zusammenreimen wohin das Frettchen und das Mädchen gegangen waren.
Ich zuckte mit den Schultern und richtete mich auf, ich kam mir immer noch leicht benommen vor, aber es ging. Trotzdem ließ ich mich wieder auf den Boden sinken und starrte ins Leere, ohne wirklich etwas zu sehen. Dieser Ort strahlte so etwas schrecklich Vertrautes aus, das ich vermisste.
Ich fühlte mich hier geborgen, auch wenn es das Haus war, in dem sich alles zum Schlechten gewendet hatte…
Ich beschloss noch eine Weile hier zu bleiben, mich einfach für ein paar Augenblicke den Erinnerungen hinzugeben, die ich mir sonst strengstens verbot.
Diese Gedanken waren mir im Moment immer noch lieber, als darüber nachzudenken, was gerade passiert war. Aenukon, Akyira, die Halbvampirin, der Dolch…
3.Nacht
Unerklärlich
Es kam mir vor, als würde ich schweben. Ich spürte unter mir keinen Schnee mehr. Auch nicht den Fels in meinem Rücken, gegen den ich gesunken war.
Ich war noch nicht ganz bei Bewusstsein. Es war, als würden meine Sinne vollkommen abgeschaltet worden sein. Ich versuchte irgendeines meiner Glieder zu bewegen, doch meine Arme und Beine waren schwer wie Blei. Ich bemerkte, dass ich meine Hände verkrampft und zu Fäusten geballt hatte. Irgendetwas lastete in meiner linken. Ich wusste nicht was, auch wenn mein Verstand mir sagte, dass es sich um etwas handelte, dass ich sofort wieder loslassen musste. Ich versuchte meine Hand zu öffnen. Es gelang mir nicht. Als ich nach und nach begann meine verkrampften Muskeln zu entspannen stach mir ein heißer Schmerz in die Brust, ich keuchte auf. Schwarzer Nebel legte sich über meine Wahrnehmung und ich drohte wieder ohnmächtig zu werden. Der Schmerz breitete sich kriechend aus und hinterließ eine eingefrorene Spur, in der die Flammen züngelten. Ich konnte ein leises Aufstöhnen nicht unterdrücken und versuchte instinktiv mich zusammen zu krümmen um mich so klein wie möglich zu machen.
Ich hörte etwas. Ein Geräusch, weit entfernt und so leise, dass ich glaubte ich würde nur träumen. Der schwarze Nebel legte sich dichter um meine Augen und verschloss sie. Ich versuchte gar nicht erst, meine Lider zu öffnen, sie waren schwer, wurden mit gewaltiger Kraft nach unten gedrückt.
Plötzlich spürte ich nichts mehr, roch nichts mehr, hörte nichts mehr. Der Schmerz war ebenfalls verklungen, obwohl ich spürte, dass er noch da war, tief in mir schlummerte er. Warum hatte er sich zurück gezogen? Stand ich schon an der Pforte zum Tod?
Ich fühlte wieder etwas. Morsche Balken, auf denen ich lag. Etwas berührte flüchtig meine Hand, löste mit geringem Kraftaufwand meine verkrampfte Hand und nahm das heraus, was ich so verzweifelt umklammert hatte.
Der schwarze Nebel verflog. Nun war der Schmerz weg, er hatte sich vollkommen verzogen. Vorsichtig stützte ich mich mit den Unterarmen auf und versuchte meine Augen zu öffnen. Meine Lider flackerten, dann schlug ich sie auf. Zuerst sah ich nur verschwommen. Ich blinzelte. Meine Sicht wurde klarer, doch ich konnte immer noch nichts erkennen. Ich blinzelte ein zweites und ein drittes Mal. Schließlich sah ich, wo ich war. Ich lag auf dem Boden eines eingefallenen Hauses. Die morschen Balken, auf denen ich lag, knarzten als ich das Gewicht verlagerte, um mich auf die Knie zu stemmen. Ich kam mir seltsam schwach vor. Als hätte mir etwas meine gesamte Energie ausgesaugt. Wie ein Vampir, der seiner Beute das Blut raubte.
Doch ich war noch am Leben. War ich noch am Leben? Ich sah mich in dem alten Haus um. Ich kannte diesen Ort.
Zögernd prüfte ich die Luft, es roch nach gestorbenem Holz, das langsam verfiel. Nach bröckelnden Steinen, die bei einer flüchtigen Bewegung barsten und… nach etwas, das er nie wieder hatte wahrnehmen wollen. Es roch nach Schatten, nach Tod und… nach Sayeron. Sein Geruch war nur mehr schwach und wurde von den anderen Eindrücken überschattet, doch ich erkannte ihn mit einer solchen Gewissheit, dass mir beinahe speiübel geworden wäre. Ich schüttelte ruckartig den Kopf. Alles in mir wurde wieder wach. All die Erinnerungen an Sayerons Tod. Warum habe ich nichts getan? Warum bin ich nur tatenlos daneben gesessen? Warum habe ich ihn sterben lassen? Warum bin ich nicht mit ihm gestorben? All die Fragen, die ich seit… seit ich aus meinem Trance erwacht war verdrängt hatte schlugen über mir zusammen, wie hohen Wellen, wenn die Flut im Meer wütete.
„Es tut mir leid, dass ich dich hier her gebracht habe, aber es ging nicht anders…“
Ich schreckte herum, meine Zähne waren abwehrend gebleckt und ein drohendes Knurren schwoll in meiner Brust an. Ich blickte direkt in zwei blutrote Augen. Die, die mich angesprochen hatte, war mir bereits so nahe gekommen, ohne, dass ich etwas bemerkt hatte. Hätte ich sie nicht hören müssen, oder zumindest riechen?
Auch jetzt, wo ich mich auf sie konzentrierte und versuchte, ihren Geruch wahrzunehmen, konnte ich sie nicht erspüren. Sie hatte keine Fährte.
Ich wich zurück bis zur Hauswand, weiter kam ich nicht. Nun sah ich das seltsame Wesen ganz. Sie schaute mich unverwandt an, ohne den Blick auch nur eine Sekunde abzuwenden. Das Mädchen kauerte in kniender Haltung da, mit einer Hand stützte sie sich am Boden ab, in der anderen hielt sie etwas, ich konnte es nicht genau erkennen, da sie es halb verbarg. Sie war klein. Ihr Körper war so zart gebaut, dass sie noch zerbrechlicher wirkte als ein Mensch. Ich sah kein Blut durch ihre Adern fließen.
Immer noch ruhte ihr blutroter Blick auf mir. Sie hatte blasse Haut und war beinahe durchscheinend. Ihr nachtschwarzes Haar reichte, wenn sie stand, vermutlich bis zu ihren Knöcheln. Es war verfilzt und hing ihr in wirren Strähnen vom Kopf. Die meisten hatte sie hinter ihre Ohren zurück gestrichen, doch da sie den Kopf schiefgelegt hatte waren ihr einige wieder vor die Schulter gefallen.
Ihre Lippen waren ebenfalls aschfahl.
Sie trug ein weißes Kleid, über das sich jedoch Flecken eingetrockneten Blutes zogen. Über ihrer Schulter befand sich etwas ebenso Schwarzes wie ihre Haare, das ich jedoch nicht einordnen konnte, aber es stank stark nach Verwesung, und nach Tod.
Ihr Anblick erschreckte mich. Doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich hatte wieder meine kalte Maske aufgesetzt, die undurchdringliche Schatten über meine Züge warf und sie einfror.
Ich wich dem Blick der Fremden instinktiv aus, irgendetwas sagte mir, dass es nicht gut war, ihr in die Augen zu sehen.
„Du brauchst keine Angst zu haben… ich werde dir nichts tun…“, meinte sie. Ihre Stimme tönte sanft in meinen Ohren nach, doch der Klang jagte mir einen Schauer über den Rücken und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus.
Die Fremde kam in kauernder Haltung auf mich zu, als würde sie versuchen ein scheues Tier zu beruhigen. Als sie kaum mehr zwei Schritte von mir entfernt war ließ sie sich auf den Boden sinken. Ihr Kleid breitete sich um sie aus und ihre Haare wallten ebenfalls zu Boden. Es sah aus, als wäre sie unter Wasser. Erneut lief es mir kalt den Rücken herunter.
„Warum bin ich hier? Was willst du von mir?“, fragte ich, meine Stimme war kalt wie immer, auch wenn sie ein wenig zitterte.
„Du warst bewusstlos… hätte ich dich liegen lassen sollen…?“ Die Fremde schien mich nicht ernst zu nehmen, oder zu wissen, was ich bin… Ihre Augen blitzten kurz auf. Als hätte sie meine Gedanken erraten stieß sie ein zischelndes Fauchen aus, und meinte wie eine gereizte Schlange: „Ich weiß was du bist… vermutlich besser als du…“
Ich verzog keine Miene, bewegte keinen Muskel. Meine Augen waren unverwandt auf die Fremde gerichtet, wobei ich ihr jedoch nicht in die Augen sah.
„Wie heißt du, Dämon?“, fragte sie und ließ sich nach vorne auf die Knie sinken, sodass sie mir ganz nahe war. Ich konnte ihren Atem beinahe auf meiner Haut kitzeln spüren. Ich zuckte unmerklich zusammen, doch ich konnte nirgends hin vor ihr zurückweichen ich lehnte bereits an der Wand.
„Mieron…“, entgegnete ich, meine Stimme klang nun zusätzlich noch herablassend, damit überspielte ich aber lediglich, dass es mir nicht geheuer war, diesem seltsamen Wesen so nahe zu sein, dass ich ihren Geruch hätte überdeutlich wahrnehmen müssen. Wenn sie einen Geruch hätte.
„Ist das dein ganzer Name?“, hakte sie weiter und fing meine Augen ein. Sie ließ sie nicht mehr frei. Immer tiefer bohrte sie ihren blutroten Blick in meinen, als würde sie direkt auf den Grund meiner Gedanken sehen und mein ganzes Bewusstsein mit nur einem Aufblitzen ihrer Iris gefangen nehmen.
„Ja…“, bekräftigte ich, es war nur aus Trotz, dass ich den Namen des Dämons nicht nannte.
„Sicher?“, fragte sie noch einmal. Sie gab meinen Blick immer noch nicht frei. Sie rückte erneut ein Stück näher, sodass der Abstand zwischen uns auf wenige Zentimeter zusammenschrumpfte. Sie legte eine Hand an meine Wange. Ihre Haut war eiskalt, sogar für mich, und meine Körpertemperatur war kälter als die eines Vampires, die Fremde war kälter als Eis. „Mieron Norvas…“
Ich zuckte zurück und stieß ihre Hand unsanft weg, es kam mir vor, als würde ich durch sie hindurch fassen, oder nur ein verdorrtes Blatt berühren, aber keines falls etwas, dass eindeutig annähernd menschlich war. Ich wollte ein lautes Knurren ausstoßen, um sie zu warnen, mir nicht noch einmal so nahe zu kommen, doch es erstarb, noch bevor es in meiner Brust angeschwollen war. Meine Augen wurden immer noch von den ihren gefangen gehalten.
„Sch-sch…“, zischelte sie und legte die Hand erneut an meine Wange, sie strich langsam an meiner Schläfe auf und ab. Es war keine sanfte, beruhigende Geste, sondern sie war besitzergreifend und befehlend. Ich rührte mich nicht.
„Was. Soll. Das?“, presste ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. Die Fremde nahm die Hand wieder zurück und betete sie in ihren Schoß, sie legte auch die andere auf ihre Knie, in ihr hielt sie einen Dolch, den Dolch, den ich in dem Fels gefunden hatte…
„Ich will dir nur helfen, Mieron Norvas…“
Endlich gab sie meinen Blick wieder frei, ich atmete aus, gleich darauf zischte ich jedoch forsch. Warum musste sie mich zusätzlich noch mit dem Namen des Dämons ansprechen?! Woher wusste sie den Namen des Dämons überhaupt?
„Helfen…“, höhnte ich fauchend. Mein Blick wanderte zu dem Dolch und ich bleckte die Zähne, warum wurde dieses seltsame Wesen nicht von Schmerzen geplagt, wenn sie die Waffe berührte?
Sie ging nicht auf meine offensichtliche Abgeneigtheit ein, sondern lächelte mich mit einem verschlagenen Zucken um die Mundwinkel an.
„Der Dolch kann mir nichts tun…“, meinte sie, ihre Stimme zeigte keinen Ausdruck, war jedoch nicht kalt.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und funkelte sie ablehnend an.
Die Fremde ließ ihre Finger über die Klinge des Bernsteindolches wandern, ich beobachtete wie ihre Hände sich um die Klinge schlossen.
„Was tust du da?“, erkundigte ich mich. Ich war nicht daran interessiert, was das fremdartige Wesen tat, aber ich fragte trotzdem nach, ich wusste nicht wieso.
„Nichts…“, meinte sie schulterzuckend und drückte die Hände zusammen. Ich hielt die Luft an, in Erwartung darauf, dass mir der unverkennbare Geruch von Blut entgegen schlug. Doch nichts geschah.
Die Fremde lachte schallend auf, es klang als hätte sie den Verstand verloren. Sie öffnete die Hand. Keine einzige Schnittwunde zog sich über ihre Handflächen. Nicht der kleinste Kratzer, obwohl ich deutlich gesehen hatte, wie sie so fest zugedrückt hatte, dass ihr die Klinge ins Fleisch hätte schneiden müssen.
Plötzlich schnellte ihr freier Arm vor wie eine Schlange und sie packte mich um das Handgelenk. Ich bemühte mich keine Regung zu zeigen, sah sie jedoch nicht an. Sie betrachtete einige Augenblicke lang die Pulsader, die gleichmäßig pochte, da ich die Hand zur Faust geballt hatte. Sie fuhr mit ihrem Fingernagel an dem Blutgefäß entlang und ritzte leicht in die Haut ein.
Nichts geschah. Jetzt war ich es, der hart auflachte. Es war ein verachtendes, überhebliches Lachen. Man konnte einen Dämon nicht verletzten!
Sie zeigte keine Reaktion auf meine Arroganz, sondern legte die Schneide des Dolchs an meinen Arm. Noch bevor die Klinge im meine Haut eindrang durchzuckte mich ein heißer Schmerz, wie ein Stromschlag. Es war derselbe Schmerz, der mich übermannt hatte, als ich den Dolch aus der Felsspalte geholt hatte. Ich biss die Zähne hart aufeinander, sodass es ein lautes Knirschen verursachte.
Ein kurzes Lächeln spielte um die Lippen der Fremden, doch es war nicht spöttisch, sondern… sanft, beinahe… liebevoll… Ich verzog das Gesicht angewidert und bleckte die Zähne.
Sie ließ die Klinge in meine Haut gleiten, hindurch bis zum Fleisch.
Ich hätte beinahe aufgeschrien, doch ich unterdrückte einen Schmerzenslaut. Dort wo der Dolch in meinen Arm geritzt hatte fuhr ein scheußlicher Schmerz durch meine Adern. Brennende Kälte floss wie Strom durch mich hindurch und lähmte meine Glieder. Ich lenkte meinen Blick auf meinen Arm, auf dem immer noch die Bernsteinklinge ruhte. Blut quoll aus der Wunde, strömte mir über die Hand und tropfte zu Boden. Doch es war nicht rot, es war pechschwarz, wie die dunkelste Nacht, ohne einen einzigen Lichtschimmer.
Die Fremde lächelte mich immer noch sanft an. Sie nahm die Klinge von meiner Haut und wischte sie an ihrem Kleid ab.
Ich ignorierte sie und presste die Hand auf die Wunde. Bald war auch meine andere Hand von schwarzen Blutspuren überzogen und meine Kraft schwand.
Ich schloss die Augen. Mein Atem ging flach und keuchend und ich musste immer wieder ein leises Aufstöhnen unterdrücken. Ich spürte etwas Kühles auf meiner Hand, mit der ich immer noch verzweifelt versuchte die Blutung zu stoppen. Sie wurde weggeschoben und plötzlich war der Schmerz weg, auch wenn er mir noch ein letztes Mal durch den Arm schoss und mich aufstöhnen ließ. Ich biss die Zähne zusammen und öffnete die Lider einen Spalt breit.
Meine Sicht war verschwommen und es kam mir vor, als würde sich alles um mich herum in rasendem Tempo drehen. Schnell kniff ich die Augen wieder zusammen, doch das Schwindelgefühl wollte nicht verschwinden. Ich sackte nach hinten und blieb an die Wand gelehnt sitzen.
Ich zitterte am ganzen Körper. Der Kraftverlust machte mir stark zu schaffen. Ich durfte jetzt nicht in die Bewusstlosigkeit hinüber rutschen. Ich musste wach bleiben. Ruckartig schüttelte ich den Kopf. Immer noch drehte sich alles in meiner verworrenen Wahrnehmung. Ich versuchte erneut meine Lider zu heben.
Der Schwindel ebbte langsam ab, trotzdem bebte mein Körper anhalten.
Die seltsame Fremde saß vor mir und schaute mich unbeirrt an. Sie zeigte kaum Regungen, lediglich ein leises Lächeln spielte um ihren Mund und sprang in ihre Augen über wie Funken.
Ich knurrte.
Sie legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue fragend hoch, als wüsste sie nicht, was sie mir getan haben sollte.
Ein erneutes Knurren entfuhr mir.
Die Fremde kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und funkelte mich für den Bruchteil eines Augenaufschlags lang an, dann wurde ihr Blick wieder sanft, als wollte sie ein verschrecktes Kleinkind davon überzeugen, dass sie ihm nichts tat. Diese Annahme bekräftigte sie noch, als sie ihre Hand auf meine legte und vorsichtig darüber strich, damit ich sie entkrampfte und die Faust öffnete, zu der ich sie geballt hatte. Als ich mich nicht gleich entspannte drückte sie die Finger vorsichtig auf meine Wunde, sodass ich die Hand schließlich bereitwillig öffnete, da der Schmerz mich sonst wieder in die bodenlose Leere der Bewusstlosigkeit riss. Ich sah zu der Schnittverletzung, die mit einer feinen Schicht aus Eis versiegelt zu sein schien, die aus hunderten Kristallen bestand, die sich ganz deutlich darunter abzeichneten, als wäre es kein Eis, sonder lediglich Raureif. Doch die Kruste war zu dick, außerdem roch sie nach Winter und schläfriger Kälte. Ich schüttelte resigniert den Kopf und lenkte meinen Blick wieder auf die Fremde, die scheinbar in Gedanken versunken die Linien auf meiner Handfläche nachfuhr. Sie hielt die Bernsteinklinge immer noch in den Fingern. Jetzt steckte sie mir die Waffe in die Manteltasche, wobei sie mit der Hand einen Moment lang über meinem Brustkorb verweilte, dort wo eigentlich mein Herz hätte sein müssen, wenn ich eines hätte, und berührte die Stelle flüchtig mit der Spitze der Schneide, dann ließ sie in meinen Trenchcoat gleiten. Dass ich den Dolch so nahe bei mir trug belastete mich und schien mich nach unten zu ziehen in eine noch größere Finsternis als die, in der ich mein ganzes Leben verbracht hatte, so kam es mir zumindest vor. Als die Fremde ihre Finger wieder aus meiner Tasche genommen hatte legte sie mir besitzergreifend die Hände auf die Schultern. Immer noch tanzte ein Lächeln über ihre Züge.
Genau wie in den ersten Augenblicken hier nahm sie meinen Blick gefangen und gab ihn nicht frei. Ich saß hilflos da und konnte keinen Muskel bewegen.
„Dich kann die Klinge jedoch problemlos verletzen...“, meinte sie und ihre blutroten Augen blitzten leicht auf. Mein Blick war einzig und allein auf ihre flackernde Iris gerichtet und es schien mir, als würde ich von einem Inferno auf züngelnden Flammenzungen eingehüllt werden. Benommen schüttelte ich den Kopf und versuchte meine Augen von ihr zu reißen. Es funktionierte nicht.
„Was ist das für eine Waffe? Eine der Dämonenjäger?“, brachte ich schließlich hervor. Meine Stimme war kalt wie immer. Seltsamerweise.
Die Fremde lachte leise. Es war ein glockenhelles Kichern. „Nein… dieser Dolch…“, sie zog meinen Blick noch tiefer in ihren Bann, „… gehört dir!“
Ich stockte. Ich hatte noch nie einen Dolch besessen. Die einzige Waffe, die ich jemals getragen hatte war das gebogene Jagdmesser meines Vaters gewesen, von jenem Vater, den ich nie kennen gelernt hatte.
Ich betrachtete die Spitze des Dolchs, die ich in meiner Manteltasche noch ausmachen konnte. Das Ende der Klinge war leicht gekrümmt.
Meine Augen weiteten sich. Es gab wenige Dolche, die einen beidseitigen Schliff trugen und gleichzeitig am Kopf gebogen waren.
„Ganz recht, es ist die Klinge deines Vaters… doch sie wurde mit einem Fluch belegt…“
Ein Fluch. Schwarze Magie. Mein Kopf begann wieder zu schwirren.
„Genau wie du…“, setzte die Fremde noch hinterher. Genau wie ich… Ich war verdammt, verdammt zu einem ewigen Leben, doch ich war immer der Meinung gewesen, ich sei der einzige, der das so sah. Ich hatte mein ganzes Dasein oft als Fluch bezeichnet, doch bis jetzt war ich immer der einzige gewesen, der das getan hatte. Was sollte das jetzt also?
Doch was mich nun mehr interessierte, als die Tatsache, dass mich dieses seltsame Mädchen als Verdammten ansah war, dass sie behauptete, auf diesem Dolch… dem Jagdmesser meines Vaters… sollte ein Fluch lasten…
„Was für ein Fluch liegt auf der Waffe?“, fragte ich langsam und starrte auf die Klinge, die in meiner Tasche leicht golden aufblitzte. Ich bemerkte erst jetzt, dass die Fremde meinen Blick wieder freigegeben hatte.
„Ein Dunkler, sehr Mächtiger… der dich zu etwas Besonderem macht…“
Ich glaubte nicht, dass diese Worte auf die Stichwaffe bezogen waren, doch ich konnte mir beim besten Willen nicht ausmalen, was sie damit meinte.
Plötzlich sah ich zwei tiefrote Augen in den Haaren der Fremden aufblitzen und eine raue, kratzige Stimme erklang, die von den vermoderten Wänden der alten Hütte wiederhalte und noch lauter in meinen Ohren dröhnte: „Akyira, halt dich zurück!“
Ein schwarzer Schatten löste sich von der Schulter des seltsamen Mädchens und landete am Boden. Rote Augen funkelten bedrohlich in meine Richtung, sie gehörten einem schwarzen… Frettchen… Das war das dunkle gewesen, das auf der Schulter der Fremden, Akyira war also ihr Name…, gelegen hatte und so stark nach Verwesung und Tod stank. Ich wagte es nicht, den Geruch noch einmal einzuatmen, da ich Angst davor hatte etwas wahrzunehmen, dass ich nicht wissen wollte. Der Körperbau des Frettchens kam mir bekannt vor, es war ein wenig größer, als eines der normalen wieselähnlichen Tiere, trotzdem war es sehr schlank.
Ich wollte den Gedanken abschütteln, der sich nun bei mir einschlich, doch es war zu spät. Wenn Sayeron nun doch nicht… tot war? Was, wenn er…
„Das ist nicht dein Seelenträger, Mieron!“, zischte Akyira und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. Ich blinzelte verwirrt und starrte das Mädchen perplex an.
„Nicht mehr…“, meinte das Frettchen und bleckte die Zähne zu einem dämonischen Grinsen.
Was hatte das alles zu bedeuten? Wer waren diese beiden Wesen? Was waren diese beiden Wesen? Was wollten sie von mir? Und warum mussten sie mich ausgerechnet hier her bringen?
„Aenukon, du jagst ihm Angst ein, sei einmal ein wenig einfühlsam…“, schalt Akyira das schwarze Frettchen. In ihrer Stimme lag trotzdem ein gewisser Respekt, was dadurch bekräftigt wurde, dass sie leicht den Kopf vor ihm gesenkt hielt und seinen Blick vermied. Die Augen des Frettchens waren in einem noch stechenderem Rot als die des Mädchens, doch die Ränder der Iris waren in ein tiefes Schattenschwarz getaucht.
„Er soll auch Furcht lernen… das ist besser für ihn…“ Aenukon ließ seine Zähne bedrohlich aufblitzen, was in starken Konflikt zu seinen ruhig ausgesprochenen Worten stand, obwohl mir diese Ruhe noch weniger behagte.
Akyira packte das Frettchen am Nackenfell, sie war jedoch in keiner Weise grob, sondern hob ihn beinahe schon vorsichtig auf und verließ mit ihm in der Hand den Raum. Im Hinausgehen zischte sie mir noch zu: „Du bleibst hier!“ Ich nickte resigniert und zog die Beine an. Ich umschlang sie mit meinen Händen. Das Kinn betete ich auf meine Knie.
Ich musste meinen Kopf Schritt für Schritt wieder klar bekommen, also ging ich alles noch einmal von Anfang an durch.
Ich hatte den Dolch in einem gewöhnlichen Felsen gefunden, war durch seine Berührung ohnmächtig geworden und war hier wieder aufgewacht… Die Frage war, wie war ich hierher gekommen? Es war mir vorgekommen, als wäre ich geschwebt… Hatte mich vielleicht jemand getragen? War noch eine dritte Person hier? Ich prüfte die Luft, was vollkommen unsinnig war. Ich roch nur Verwesung und die kalten Schatten des Todes, sonst nichts, abgesehen von Sayerons schwacher Fährte, die jedoch von allem anderen überdeckt wurde. Selbst wenn noch jemand hier war, wenn er ein ähnliches Wesen wie Akyira war, konnte ich ihn sowieso nicht wahrnehmen. Weder riechen, noch hören…
Ich war mir sicher, dass mich jemand hierher gebracht haben musste… wie war mir unklar…
Als nächstes war da das seltsame Mädchen selbst. Sie sah kaum älter aus als elf, war klein und zierlich und jagte mir trotzdem mehr Angst ein, als es ein Werwolf getan hätte. Mich wunderte, dass sie mir überhaupt eine Emotion entlocken konnte, aber Furcht war das letzte, von dem ich erwartet hatte, dass ich es jemals wieder empfinde. Ich wusste nicht, was sie war, konnte es nicht einmal erahnen. Sie war gewiss keine Sylunée, auch wenn es für ungeschulte Augen danach aussehen konnte, als sei Aenukon ihr Seelenträger. Aber ich konnte nicht diese unbrechbare Verbindung zwischen den Beiden spüren, so wie sie bei Arkaras und Aylea bestand, ich konnte gar kein Band zwischen den Beiden erfühlen. Nach dem, was ich über so etwas wusste dürften sie sich eigentlich gar nicht beim Namen nennen können. Den Wesen, die nicht mit dem anderen auf eine schwache Art Verbunden waren durften den anderen nur bei seinem menschlichen Namen ansprechen. Sie durften den Magischen zwar erfahren, doch niemals aussprechen, sonst wurden sie bestraft… niemand wusste wie, aber es war so…
Warum durften die Beiden mich bei meinem Namen nennen? Ich spürte, dass ich das bei den Beiden ebenfalls durfte, aber wieso? Sie waren mir von ihrem Wesen her völlig unbekannt, ich wusste nicht einmal, was sie waren…
Ich fand auch bei diesem Gedankengang zu keiner Lösung, also beschloss ich einen anderen zu verfolgen.
Das Nächste, was mich verwundert hatte war, dass Akyira den Namen des Dämons gekannt hatte, obwohl ich ihn ihr nicht genannt hatte…
Ich brach die Überlegung sofort wieder ab, da ich bezweifelte, dass ich dabei auf etwas kam, dass mir weiterhalf, und mich nicht noch mehr verwirrte.
Akyira hatte generell die meiste Zeit gewusst, was mir durch den Kopf gegangen war, was eines der Dinge an dem seltsamen Mädchen war, das mir immer wieder einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
Ich verscheuchte auch diese Gedankenfolge und kam zu dem Punkt, der mein Interesse am meisten anzog und mich zugleich am stärksten abschreckte.
Der Dolch, der Dolch meines Vaters, der nun in meiner Manteltasche lag und dessen Last ich unaufhörlich fühlte…
Die Klinge war mit einem Fluch belegt, behauptete Akyira zumindest… Mit was für einem Fluch? Warum? Was hatte mein Vater getan oder… was hatte ich getan…? Ich hatte dieses Jagdmesser ein einziges Mal getragen. Damals war die Schneide in ein einfaches Silber gefasst gewesen, gewöhnliches Metall.
Ich hatte die Waffe ohne die Erlaubnis meiner Mutter aus der Truhe genommen, in der sie die Dinge aufbewahrt hatte, die mein Vater zurückgelassen hatte, als er nach meiner Geburt verschwunden war. Spurlos, ohne ein Wort. Ich war gerade einmal elf geworden und hatte meinen Seelenträger noch nicht getroffen. Ich war ein ganz normaler Mensch. Arkaras war damals bereits achtzehn gewesen und war in seiner Alterung stehen geblieben. Er hatte mich immer damit aufgezogen, dass ich ein schwaches Menschlein war, und dass ich mich nicht alleine durchschlagen könnte.
An diesem Tag wollte ich ihm beweisen, dass ich sehr wohl in der Lage war, auf mich selbst acht zu geben. Ich schnappte mir den Dolch und lief aus dem Haus, in Richtung Wald. Ich wollte auf die Jagd gehen. Wollte einen Hirsch, oder einen Elch erlegen, damit ich Arkaras beweisen konnte, dass ich nicht nur ein unbeholfener, kleiner Mensch war.
Doch auch wenn ich es nicht wahrhaben hatte wollen, ich war noch jung, nicht ausgewachsen und für ein magisches Wesen sowieso nur ein Kleinkind, dass seine Fähigkeiten noch nicht entdeckt hatte. Trotzdem war ich an diesem Morgen aufgebrochen. Noch bevor die ersten Strahlen der Sonne über die Ränder der Berge geschaut hatten, war ich in den Wald gelaufen.
Bald war ich auf die Spuren eines großen Huftieres gestoßen, ein Reh, oder ein Hirsch vermutlich… ich hatte es aber nie erfahren…
Kaum war ich der Spur einen halben Sonnenlauf lang gefolgt, wurde mein Weg von etwas anderem gekreuzt.
Von einem Vampir.
Mit einem kurzen Blick hatte er erkannt, dass ich kein gewöhnlicher Mensch war, auch wenn ich den Anschein danach machte. Er hatte mich umkreist, wie ein Tiger seine Beute und war mir in engen Schlingen immer näher gekommen.
Eigentlich war es erstaunlich, dass er mich am Leben gelassen hatte, doch als ich seinen Blick gesucht hatte, um seine Absichten vollends einschätzen zu können, hatte er seine Augen weit aufgerissen und war weggerannt.
Ich hatte den Dolch meines Vaters gezogen, doch da ich unter Schock gestanden war, ließ ich ihn einfach fallen und rannte, so schnell mich meine Beine trugen zurück nach Hause.
Seit diesem Tag hatte ich die kleine Klinge nie wieder in Händen gehalten. Erneut ließ ich meinen Blick zu der Waffe schweifen, die in meiner Tasche lag. Der Bernstein stach mir wieder blendend in die Augen und die roten Adern schienen mich in ihren Bann zu ziehen. Desto länger ich auf den Dolch sah, desto schwerer fühlte er sich in meiner Tasche an.
Bevor ich weiter über all die Dinge nachdenken konnte, die mir unaufhörlich im Hinterkopf lagen vernahm ich, wie Akyira mit Aenukon wieder zurückkam. Ich hob den Kopf und wandte meinen Blick, der nun wieder ganz leer war zu den Beiden. Jetzt lief das Frettchen voran. Es bewegte sich schnell und seine Bewegungen wirkten selbstsicher. Er machte trotzdem, dass er im Körper eines kleinen Tieres war den Eindruck, dass man ihn nicht unterschätzen sollte.
„So, Mieron…“, meinte Akyira und ließ sich neben mir auf die morschen Balken sinken. Ich kniff die Augen zusammen, ich hatte, als die Beiden den Raum wieder betreten hatten, nicht auf das Mädchen geachtet, dadurch war ich jetzt umso verwirrter. Sie sah verändert aus. Ihre Gesichtszüge waren härter geworden und sie schien auch größer und nicht mehr ganz so kindlich. Ihrem Aussehen nach zu urteilen hätte sie in etwa vierzehn sein müssen. Ich ließ mir nichts von meiner Verwirrung anmerken und lehnte den Kopf an die zerfallene Mauer, von der ich nicht genau sagen konnte, ob sie nun aus gräulichem Holz oder Stein gemacht wurde, da ihr Geruch durch die starke Verwitterung nicht mehr zu erkennen war und ich konnte auch nicht fühlen, was es war.
Ich beschäftigte mich nicht weiter mit meiner Umgebung, sondern konzentrierte mich auf die beiden Wesen, die mich aus ihren stechend roten Augen heraus ansahen.
„Wir wissen, dass das alles zu viel auf einmal für dich ist… aber du musst nicht begreifen, du musst nur tun, was wir dir sagen und alles wird gut…“, säuselte Akyira und stützte die Hände links und rechts neben meinen angewinkelten Beinen ab, sodass sie direkt vor mir saß und mir keinen Ausweg mehr ließ.
Ich sollte tun, was sie sagten. Sollte ihnen gehorchen?! Niemals. Ich war immer noch frei, soweit man jemanden, der in seinem eigenen Geist gefangen war, als fessellos bezeichnen konnte.
Für den Bruchteil einer Sekunde wandte ich den Blick ab, dann sah ich wieder direkt in Akyiras blutrote Augen. Sie war mir noch näher gekommen und ich spürte, dass sie mich nicht wiedersprechen lassen würde. Sie würde meinen Protest ersticken, noch bevor ich ihn völlig ausgesprochen hatte.
Ich kam mir erneut vor, wie ein Gefangener.
Niemand sagte etwas, die Beiden schienen darauf zu warten, dass ich zustimmte, mich ihnen wehrlos ergab. Mein Blick zuckte kurz zu Aenukon, der mit steinerner Miene zu uns sah und keinen Muskel bewegte, so erweckte er noch mehr den Anschein tot zu sein. Sein brennend roter Blick war auf mich gerichtet, obwohl es eher schien, als würde er durch mich hindurchsehen, auf etwas anderes, das hinter mir lag. Ich wandte mich wieder Akyira zu, die langsam ungeduldig zu werden schien. Ein leichtes, selbstgefälliges Zucken schlich sich in meine Mundwinkel ein.
„Warum sollte ich tun, was ihr sagt?“, fragte ich mit ungehaltener Verachtung in der Stimme. „Es ist besser für dich…“, entgegnete mir das Frettchen an Stelle von Akyira. Ich schüttelte nur resigniert den Kopf. Mir war zwar klar, dass ich diese Diskussion nicht gewinnen konnte, aber trotzdem wollte ich nicht kampflos aufgeben, auch wenn nichts da war, für das sich das kämpfen lohnte.
Akyira stieß ein verächtliches Zischen aus, das klang wie eine gereizte Schlange und ihre Hand schnellte mit unvorstellbarer Geschwindigkeit vor und packte mich im Nacken.
Sie legte die Lippen an mein Ohr und meinte in einem gefährlich ruhigen Flüsterton: „Hör mir mal genau zu.“
Das Mädchen verstärkte den Griff in meinem Nacken sodass ich die Zähne zusammenbeißen musste, damit mir kein Schmerzenslaut entfuhr, doch ein leises Aufstöhnen konnte ich trotz der Bemühungen nicht unterdrücken. Eine kurze, flackernde Regung tanzte über Aenukons Maske, es waren Spott und Verachtung.
Ich stieß ein hartes Fauchen aus und versuchte, Akyiras Hände aus meinem Nacken zu lösen, doch sie wollte ihren Griff nicht lockern. Stattdessen brachte sie ihr Gesicht so nahe an meines, dass ich ihre blutroten Augen direkt im Blick hatte und nichts anderes mehr sehen konnte. Wieder war sie so besitzergreifend. Es schreckte mich ab, dass ich so gar nichts dagegen tun konnte, ich konnte nur dasitzen und ihr in die Augen sehen, die den meinen so nahe waren.
„Akyira…“, tadelte Aenukon mit abwesender Stimme und warf ihr einen kurzen, aber eindeutigen Blick zu. Das Mädchen ließ meinen Nacken, den sie immer noch umschlossen hielt, los und zog sich ein wenig zurück, ihre Augen waren auf die verfallen Bodenbalken gerichtet. Akyira entfuhr ein leises Fauchen und sie zischelte etwas auf einer abgehakt -klingenden, fremden Sprache. Mein Blick zuckte zwischen Aenukon und dem Mädchen hin und her und ich hob beinahe unbewusst eine Augenbraue. Irgendetwas sagten mit die Worte, die Akyira murmelte. Es kam mir vor, als hätte ich sie selbst schon oft ausgesprochen… vor langer Zeit… vielleicht sogar in einem anderen Leben…
„Verzeih, wenn sie ein wenig… aufdringlich… wirkt, sie ist erst wenige Stunden alt…“, riss Aenukon mich aus meinen Gedanken. Akyira hatte sich nun ganz zurückgezogen und hatte die Hände auf ihr gräulich – weißes Kleid gebetet. Ihr Blick zuckte für einen kurzen Moment zu mir, und ich glaubte so etwas wie Enttäuschung darin sehen. Meine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als ich diesen seltsamen Ausdruck auf ihren Zügen sah.
Das Mädchen schien mein Unbehagen zu spüren und schlug die Augen sofort wieder nieder, sodass ich die Ränder ihrer Iris gerade noch erahnen konnte.
Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Aenukon und befasste mich erst jetzt wirklich mit den Worten, die er mit dieser eigenartigen Ruhe ausgesprochen hatte. Wenige Stunden? Ich hatte zwar bemerkt, dass Akyira, die zu Beginn dieser Begegnung ausgesehen hatte wie elf nun eher wirkte wie vierzehn, doch ich hatte nicht gedacht, dass sie die ganze Zeit so rasend schnell gealtert war. Ich wusste von Wesen, deren Alterung beschleunigt war, doch ich hatte noch nie mit etwas zu tun gehabt, dass so schnell wuchs. Das war absolut unmöglich.
„Wer seid ihr?“, fragte ich langsam, meine Stimme war trocken und ich zeigte nicht wirklich Interesse, auch wenn diese Frage wohl das einzige war, dass meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich hätte mich eigentlich lieber danach erkundigt was sie waren, aber diese Antwort würde ich hoffentlich auch so erhalten.
„Ich wurde auf den Namen Aenukon getauft, das war aber nicht das, was du wissen wolltest...“, das Frettchen formulierte seine Worte eher als Feststellung, als als Frage und ich hatte auch nicht vor zu antworten.
„Es ist nicht wichtig, wer oder was wir sind, wichtig ist, dass du etwas für uns tun kannst, besser gesagt tun musst…“, fügte Akyira zischend hinzu, sie hatte sich wieder ein wenig aufgerichtet, da sie, als Aenukon sie zuvor zurecht gewiesen hatte ein wenig in sich zusammengesunken war.
Da war wieder dieses „du musst“, als würde ich ihnen gehören, als würde ich ihre Befehle ausführen… als wäre ich ihr Diener… Doch anstatt Akyiras Worte sofort wieder auszuschlagen, meinte ich: „Und was könnte ich für euch tun?“
„Nun, wir haben etwas vor… und dazu brauchen wir das Blut einer Vampirin…“, begann das Mädchen zu erläutern, ihr Blick blieb auf die Bodenplatten gerichtet, da sie sich scheinbar immer beschämt darüber war, was sie getan hatte, oder was sie im Begriff war zu tun… ich wusste es nicht…
Ich ließ mir ihre Worte durch den Kopf hallen. Das Blut einer Vampirin? Vampire hatten doch gar kein Blut…
„Sie ist, genau gesagt eine Halbvampirin und wir benötigen ihre Blutdienste für einen Fluch… es ist nicht von Belang für was genau, du musst nur wissen, dass du schnell handeln musst…“, fügte Aenukon an, der mir nun näher war als Akyira. Er tauschte einen kurzen Blick mit mir aus, dann wandte er seine blutigen Augen wieder ab.
Ein kurzes Bild durchzuckte meinen Geist, nur wie eine sanfte Berührung. Eine kurze Vision, die sich jedoch tief in meinem Bewusstsein verankerte. Ein lächelndes Gesicht, vor Freude sprühende Augen und der offensichtliche Spaß am Leben… die erst Reaktion, die mich durchzuckte war Abscheu, die sich gleich darauf in Verachtung umwandelte. Erst nachdem ich schon Hass auf diese fremde Halbvampirin entwickelt hatte begutachtete ich ihr Bild genau.
Sie hatte lange Haare, deren Farbe in diesem Licht von einem stark abgeschwächten Kastanienbraun, durchzogen von feinen, blass goldenen Strähnen war. Sie vielen ihr in lockeren Wellen über die Schultern und reichten ihr bis zur Taille.
Ihr Gesicht war schmal und zierlich. Ihre hohen Wangenknochen zeichneten sich leicht unter ihrer dünnen Haut ab, die in einem leichten Olivton schimmerte. Ihre Lippen waren ebenfalls so aschfahl wie ihr Gesicht, jedoch waren sie voll und kräuselten sich in einem perfekten Lächeln.
Diese Halbvampirin… sie war das Wesen, dass mich am heutigen Morgen beinahe um den Verstand gebracht hätte…
Das kam mir gerade Recht.
Einer meiner Mundwinkel zuckte zu einem grimmigen Lächeln nach oben und ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Aenukon und Akyira.
„Nun, was sagst du, Dämon?“, erkundigte sich das Frettchen mit einem Klang in der Stimme, der mich bezweifeln ließ, dass es ihn wirklich interessierte, ob ich zusagte, oder nicht.
Gerade wollte ich entgegnen, dass ich darauf einging, als Aenukon mich Dämon nannte. Ich fuhr hoch, meine Zähne waren gebleckt.
„Ich bin nicht der Dämon!“, zischte ich wütend und funkelte Aenukon mit blitzendem Blick an.
„Schon gut, reg dich ab…“, winkte das Frettchen nüchtern ab und wandte seine Augen das erste Mal ganz auf mich. Mein Blick streifte seinen für einen kurzen Augenblick und ein Schauer jagte mir, wie ein unangenehmer Kälteschock über den Rücken.
Ich ließ mich wieder an den Blanken nach unten sinken.
„Ich werde euch die Halbvampirin bringen…“, meinte ich mit grimmiger Vorfreude in der ansonsten tonlosen Stimme.
„Das ist erfreulich zu hören!“, säuselte Akyira, die mir mittlerweile wieder näher war, als Aenukon, da dieser sich zurückgezogen hatte und den Blick aus dem Fenster gerichtet hielt, das gleichmäßig von einem Sprung gebrochen war, der sich vom oberen Ende gleichmäßig bis zur unteren Ecke zog.
„Ich werde dich keinen Schwur leisten lassen, dass du es auch wirklich tust, da ich dir im Augenblick noch mein Vertrauen schenke, aber wenn du mich enttäuschst…“
Das Frettchen ließ den Satz offen stehen, doch ich konnte mir denken, was er ausdrücken wollte.
Kurz starrte ich auf den Boden, um mich zu sammeln. Als ich meinen Blick hob waren Aenukon und Akyira verschwunden. Einige blutrote Nebelschwaden schlängelten in dünnen Fäden über den Boden und lösten sich allmählich auf.
Ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen, konnte mir aber nicht zusammenreimen wohin das Frettchen und das Mädchen gegangen waren.
Ich zuckte mit den Schultern und richtete mich auf, ich kam mir immer noch leicht benommen vor, aber es ging. Trotzdem ließ ich mich wieder auf den Boden sinken und starrte ins Leere, ohne wirklich etwas zu sehen. Dieser Ort strahlte so etwas schrecklich Vertrautes aus, das ich vermisste.
Ich fühlte mich hier geborgen, auch wenn es das Haus war, in dem sich alles zum Schlechten gewendet hatte…
Ich beschloss noch eine Weile hier zu bleiben, mich einfach für ein paar Augenblicke den Erinnerungen hinzugeben, die ich mir sonst strengstens verbot.
Diese Gedanken waren mir im Moment immer noch lieber, als darüber nachzudenken, was gerade passiert war. Aenukon, Akyira, die Halbvampirin, der Dolch…
Gast- Gast
Re: Schattenhaft - der dunkle Spiegel in mir
2. Tag
Wiedersehen
Langsam schob ich die Tür zum Klassenzimmer auf. Ich war gerade noch pünktlich. Genau in dem Moment, als ich den Raum betrat ertönte das schrille Klingeln, das den Beginn des Nachmittagsunterrichts ankündigte. Ich war nun bereits den zweiten Tag hier an dieser Schule und ich hatte schon mit viele neue Gesichter kennen gelernt.
Der Werwolf war nicht noch einmal bei mir aufgetaucht. Ich war irgendwie verwundert darüber… aber es war mir nur Recht.
Schnell ließ ich meinen Blick umherschweifen. Der Lehrer war noch nicht da… generell kamen die Aufsichtspersonen immer mindestens fünf Minuten zu spät, keiner der Professoren war bis jetzt pünktlich gewesen, aber das störte mich wenig. Ich kam selbst meistens erst zu Stundenbeginn, da ich immer herumtrödelte, oder von einem neuen Bekannten aufgehalten wurde, der mich im Schulhaus aus heiterem Himmel ansprach. An dieser Akademie waren alle sehr freundlich, auch wenn ich mir bei manchen nicht sicher war, ob sie es ernst meinten oder nicht.
Ich erblickte Etana, die wieder am hinteren der beiden Fenster stand und in die grauen Straßen hinaus starrte. Wir hatten noch nicht viel Gelegenheit gehabt, uns zu unterhalten, da ich ständig von den anderen belagert wurde, weshalb das rothaarige Mädchen meist das Weite suchte, da sie zu viel Gesellschaft scheinbar nicht abkonnte.
Sie war eine Herausforderung für mich und meine gute Laune, aber sie kam mir sympathisch vor. Also querte ich das Klassenzimmer und stellte mich neben sie, aber mit dem Rücken zur Scheibe, an die Fensterbank.
„Na, wie sieht´s aus?“, fragte ich mit einem leichten Lächeln im Gesicht.
Etana wandte mir den Blick zu, sie schien bis jetzt mit den Gedanken wo anders gewesen zu sein.
„Es geht, aber ich habe keine Lust auf Physik…“, entgegnete sie, ihre Stimme klang grimmig, aber ich wusste, dass ihre Laune verhältnismäßig relativ gut war…
„Hm… es gibt Schlimmeres…“, setzte ich zum Smalltalk an, doch Etana winkte sofort ab, sie schien sich nicht gerne über die Schule zu unterhalten.
Ich wollte nicht locker lassen, und schon gar nicht aufgeben, also setzte ich einfach beim offensichtlichen an:„Du wirkst irgendwie abwesend, ist etwas passiert?“
„Ja… und nein…“, erwiderte sie und richtete ihren Blick für einen kurzen Moment wieder aus dem Fenster, gen Horizont, wo sich die grauen Wolken zu einer bedrohlichen Mauer auftürmten.
Ich wollte gerade nachhacken, was den jetzt passiert war, oder auch nicht… so eine Antwort hatte ich von einer Freundin schon einmal erhalten, doch das konnte ich nicht mit Etanas Art in Verbindung bringen… als die Tür sich öffnete und ein hoch gewachsener Mann eintrat. Sein grau – braunes Haar war bereits schütter und von weißlichen Strähnen durchzogen. Ein farblich gleicher Vollbart, der kurz gestutzt war verdeckte seine Oberlippe und verbarg sein ansonsten recht markantes Kinn. Seine Nase erinnerte mich an den Schnabel eines Habichts, so groß und krumm wie sie war.
Trotzdem, dass er bereits in die Jahre gekommen war, war seine Körperhaltung aufrecht und er hatte drahtige Arme und Beine.
Etana und ich begaben uns auf unsere Plätze, während der Professor sich dem Pult näherte.
„Jetzt hat dich deine Intuition im Stich gelassen…“, meinte Etana nüchtern, als sie sich auf ihren Stuhl sinken ließ.
Damit lag sie richtig… ich hatte nicht darauf geachtet, ob ich draußen die schlurfenden Schritte eines Erwachsenen hörte.
„Das ist möglich…“, entgegnete ich ebenso sachlich und schlug mein Heft auf, das ich noch schnell aus meiner Tasche genommen hatte, bevor ich sie auf den Boden fallen ließ.
Der Lehrer hatte sich ebenfalls bereits auf seinen Stuhl gesetzt und ließ seinen Blick über die vermerkte im Klassenbuch schweifen.
„Lucy Blackhood?“, fragte er mit monotoner Stimme und hob die Augen von der Seite, die er gerade noch studiert hatte.
Ich brauchte einen Moment, bis ich registrierte, dass ich damit gemeint war, da ich meistens Lu genannt, oder bei meinem magischen Namen gerufen wurde.
Ich hob den Kopf und richtete meine Aufmerksamkeit ganz auf den Physikprofessor.
„Ja?“, meldete ich mich mit einem höflichen Unterton in der Stimme.
„Sie sind neu hier… schön Sie kennen zu lernen.“, meinte er und wandte sich dann einem Zettel zu auf den er mit gekritzelten Notizen beschrieben hatte, von denen nicht genau zu sagen war, ob sie nun in Schreibschrift, oder Druckschrift waren.
Eigentlich hatte ich diesen Lehrer schon einmal gehabt, in Biologie, aber das schien er wohl vergessen zu haben… vielleicht erste Alterserscheinungen. Bei Menschen wusste man nie.
„Gleichfalls…“, murmelte ich.
Einige Momente lang verharrte der Lehrer noch reglos, dann legte er den Zettel auf der Seite des Klassenbuches ein, die er aufgeschlagen hatte.
Ich wandte den Blick von dem Professor ab und beugte mich zu Etana hinüber.
„Wie heißt der nochmal?“, fragte ich, da mir der Name des Lehrers entfallen war, obwohl wir ihn an diesem Vormittag bereits in Biologie gehabt hatten.
„Lawiet… aber frag mich nicht, nach seinem Vornamen…“, antwortete Etana.
„Ihr könnt eure Privatgespräche auch nach meiner Stunde führen, jetzt solltet ihr gebannt dem Stoff lauschen, Etana und Lucy“, ermahnte uns der Professor, dessen dunkelbraune Adleraugen auf uns gerichtet waren.
Etana und ich tauschten einen kurzen Blick aus und verdrehten beide die Augen. Ich wandte mich meinen Notizen zu und führte mit flinker Feder Mitschrift.
Doch mir wollte Etanas abwesender Gesichtsausdruck nicht aus dem Kopf. Irgendetwas war passiert, in der Zeit zwischen dem Vormittags- und dem Nachmittagsunterricht, oder vielleicht schon gestern… aber was?
Ich musste mich danach erkundigen, aber der Lehrer würde mich sicher wieder erwischen, wenn ich mit ihr sprach.
Also kramte ich einen Spiralblock aus meiner Tasche und riss unachtsam eine Seite heraus.
Ich nahm meinen Stift auf und schrieb mit kleinen, verschlungenen Buchstaben auf die erste Zeile:
Du hast mir immer noch nicht gesagt, was passiert ist, oder ob überhaupt etwas passiert ist. Also: Was ist los?
Dann schon ich Etana, die den Blick auf ihr Heft gerichtet hatte, aber keine nennenswerten Notizen machte, den Zettel hin.
Sie hob den Blick und ihre Augen zuckten kurz über meine geschriebenen Zeilen. Zweifel schlichen sich in meinen Hinterkopf, ob sie überhaupt antworten würde. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, eher nicht.
Doch sie nahm, gegen meine Erwartungen den Stift zur Hand und ließ ihn in unregelmäßigem Takt über das Blatt wandern.
Ich wandte mich, während sie schrieb, wieder der Tafel zu und dem Lehrer, der davor stand und uns den Stoff erklärte.
Ich begann nicht mehr ganz so säuberlich wie vorhin Notiz zu führen, doch ich hatte meinen ersten Satz noch nicht einmal fertig formuliert, als Etana mir schon den Zettel an die Hand schob. Ich zog ihn zu mir und legte ihn auf mein Heft, dann überflog ich die Zeile:
Ich bin gestern jemandem begegnet, weiter nichts. Es war etwas irritierend.
Etwas irritierend? Das hörte sich doch nach dem an, was ich vermutet hatte. Aber, ehrlich gesagt traute ich Etana das nicht zu… sie war nicht viel unter Menschen und von dieser Art Beziehung hielt sie sich bestimmt strikt fern…
Ich konnte es jedoch nicht lassen, meiner Vermutung nachzugehen:
Ein Junge?
Wieder schob ich den Zettel neben sie, behielt den Blick aber diesmal auf Etana gerichtet, da ich ihre erste Reaktion auf meine Anschuldigung sehen wollte.
Einen Moment lang starrte das rothaarige Mädchen den Zettel nur perplex an, dann sah sie zu mir.
Wenn Blicke töten könnten… dachte ich bei mir, als sie mir einen vernichtenden Blick zuwarf, mit dem sie mich eine ganze Zeit lang fixierte.
Also ging es wirklich um einen Jungen, oder sie reagierte über… es war beides möglich, auch wenn ich ihr letzteres eher zutraute.
Etana kritzelte wütend eine Antwort. So fest, wie sie den Stift auf das Papier drückte, würde sie wohl ein Loch in den Zettel reißen. Kaum war sie fertig hob sie den Blick wieder und bedachte mich erneut mit einem vor Aufregung blitzendem Blick.
Ja, ein Junge, aber nicht das was du denkst! Er hat mich angegriffen, und wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, er hätte mir beinahe die Zähne in den Hals geschlagen!
Mir wurde schlecht. War etwa ein Vampir, oder ähnliches hier unterwegs? Hatte was auch immer es gewesen war, versucht Etanas Blut zu trinken? Ich versuchte ruhig zu bleiben, doch das gelang mir nicht. Welche Schlüsse hatte Etana daraus gezogen? Hielt sie denjenigen einfach nur für einen Psychopathen, oder hatte sie Verdacht geschöpft?
Ich schluckte den Kloß hinunter, der mir die Atemwege versperrte und mich beinahe ins Keuchen kommen ließ und setzte zitternd den Stift aufs Papier, meine Schrift war durch das Beben meiner Hände kaum leserlich und ich hoffte Etana würde meine Nervosität nicht bemerken.
Ich biss mir auf die Unterlippe um mich zu beruhigen, dann presste ich die Zähne aufeinander und versuchte meine Hände unter Kontrolle zu bringen.
Das ist doch Blödsinn. Menschliche Zähne können die Haut und das Fleisch nicht durchschlagen, das musst du dir unter Schock eingebildet haben.
Ich hoffte, sie würde mir das glauben, auch wenn ich selbst nicht davon überzeugt war.
Ich schob ihr den Zettel zu und wandte meinen Blick sofort ab, ich wollte nicht sehen, wie sie reagierte. Ich wusste, dass ich sie damit vermutlich wütend gemacht hatte, da es beinahe so formuliert war, als würde ich sie als dumm bezeichnen.
Ich starrte auf die Tischplatte und hob den Kopf erst wieder an, als ich den Zettel an meinem Ellbogen spürte, ich zog ihn zu mir, wagte aber im ersten Moment nicht, darauf zu sehen.
Ich hatte wirklich beinahe Angst davor, mir anzusehen, wie sie meine Bemerkung auffasste.
Schließlich raffte ich mich zusammen und warf einen Blick auf die Zeilen.
Was weißt du darüber?
Genau das stand da… Was weißt du darüber? …Hatte ich mich verraten? Was hatte Etana zuvor schon geahnt? Erneut begannen meine Hände zu zittern und ich hatte Mühe damit mich dazu zu zwingen, die nächsten Zeilen auf das Blatt zu kritzeln:
Was soll ich worüber wissen? Ich kenne keinen Psychopathen, der Mädchen angreift.
Von dem Moment an, als ich ihr den Zettel zuschob konnte ich nicht mehr Mitschrift für den Unterricht führen, oder mich auf den Lehrer konzentrieren, der uns gerade einen ausführlichen Vortrag über die Schnelligkeit der Sonnenstrahlen zu halten schien. Ich glaubte auch, dass Etana den Rest ihrer Aufmerksamkeit, die sie dem Stoff schenkte, nun auf ihre eigenen Gedanken richtete.
Ich saß in der Zwickmühle. Ich konnte ihr nichts sagen. Das wäre mein und ihr Todesurteil, doch ich würde mich auch nicht darum herumreden können, dazu war Etana schon viel zu nah an der Wahrheit dran. Sie dachte zwar vermutlich nach wie vor, dass dieser Fremde, der sie angegriffen hatte ein Mensch war, aber sie hatte bemerkt, wie ich darauf reagiert hatte, und schien registriert zu haben, dass etwas nicht stimmte. Also wartete ich angespannt darauf, was sie schrieb. Wäre ich ein Mensch gewesen, hätte mein Herz vermutlich wie wild zu pochen angefangen, mein Puls hätte mir in den Ohren gehämmert und mir wäre der Schweiß auf die Stirn getreten. So zeigte nur das heftige Zittern meiner Hände an, dass ich unter unerträglicher Anspannung stand und, dass meine Muskeln sich immer stärker verkrampften, bis ich vermutlich steif wie ein Eisblock dasaß.
Endlich schon mir Etana wieder den Zettel hin. Ihre Mine war verschlossen, ich konnte nicht erkennen welche Gedanken ihr durch den Kopf huschten, da weder um ihre Lippen noch um ihre Augen Andeutungen ihrer Gefühle tanzten.
Das meinte ich nicht. Wieso hast du so seltsam reagiert, als ich geschrieben habe, dass der Kerl mir beinahe die Zähne in den Hals gebohrt hätte, du schienst, als würdest du ahnen, was los ist. Und ich denke ich habe ein recht zu erfahren was mich da angegriffen hat.
WAS mich da angegriffen hat… ich konnte es nicht fassen, dass sie so schnell dahinter gekommen zu sein schien. Ich kritzelte lediglich ein:
Später
Quer über das Blatt und wandte mich wieder dem Unterricht zu, dem ich jedoch in keiner Weise folgen konnte. Ich würde Etana alles sagen müssen, was hatte ich für eine Wahl, die akzeptabel war. Es kam auf keinen Fall in Frage, dass ich sie töte würde, das war ausgeschlossen. Ich würde sie auch nicht zu den höchsten Vampiren bringen, damit diese ihre Erinnerungen löschten, denn wenn ich das tat konnte ich nicht garantieren, dass sie dort auch wieder lebend, und vor allem als Mensch wieder herauskam…
Genauso wenig konnte ich ihr gar nichts sagen, denn dann würde ich riskieren, dass sie auf eigene Faust weiter nach Antworten suchte und dabei womöglich jemand anderen auch noch einweihte.
Schließlich erscholl das schrille Klingeln zum Stundenende. Ich hätte mir gewünscht, dass es noch länger gedauert hätte… je mehr Zeit ich zum nachdenken hatte, desto besser. Vielleicht würde mir ja noch eine Lösung einfallen, auch wenn ich nicht sehr zuversichtlich war.
In Schneckentempo räumte ich meinen Tisch ab und verstaute mein Heft und die Stifte in meiner Tasche. Als ich den Reißverschluss zu zog, hörte ich neben mir ein erleichtertes Ausatmen. Etana wartete immer noch. Was hatte ich mir auch anderes erwartet? Hatte ich vielleicht gedacht, dass sie gegangen wäre, als hätte sie vergessen, was wir auf den Zettel geschrieben hatten… nicht einmal ein Mensch vergaß solche Dinge so schnell. In diesem Fall wäre es mir sogar Recht gewesen.
Vielleicht bekam ich ja durch irgendetwas noch Zeit. Eine Verzögerung, sodass ich es hinausschieben konnte…
Ich erhob mich und hängte mir die Tasche über die Schulter. Der Raum war bereits vollkommen leer, nur ich und Etana waren noch hier. Alle Stühle waren auf die Tische gestellt und am Boden lagen einzelne Papierkügelchen und Zettel herum.
Als ich die Blätter entdeckte, die beschrieben auf dem Boden lagen, musste ich unweigerlich an die Seite aus meinem Notizblock denken, die ich mir in die Hosentasche gestopft hatte.
Langsam wandte ich meinen Blick Etana zu, die mich mit ungezügelter Ungeduld anschaute und eine auffordernde Kopfbewegung in Richtung Tür machte.
Ich spürte, wie meine, sonst nach oben zeigenden, Mundwinkel nach unten abrutschten und mein Gesicht sich zu einer Maske verzog.
Etana ging voran und verließ vor mir den Raum. Ich schlenderte langsam hinterher und blieb auf Abstand zu ihr. Ich bemerkte nur verschwommen, wie wir zu den Schließfächern kamen. Die einzelnen Nummern und das Gelb der Schränke verschmolzen, trotzdem konnte ich meinen Spint ohne Probleme finden. Ich schloss ihn mit immer noch zitternden Händen auf und starrte für einen Moment einfach nur hinein.
Geistesabwesend zog ich mir Schuhe und Mantel an dann schwankte ich wie unter Trance nach oben, wo Etana, die natürlich schneller gewesen war als ich, schon auf mich wartete.
Jetzt gab es keinen Aufschub mehr. Es stand unweigerlich bevor… Ich musste ihr alles erklären, alles was ich wusste. Aber zuerst würde ich sie fragen, was sie dachte, was sie darüber für Vermutungen anstellte… vielleicht war eine ihrer Theorien ganz normal und ich konnte darauf aufbauen.
Das glaubst du wohl selbst nicht!, schalt ich mich und schüttelte den Gedanken ab. Ich würde mir anhören, was sie zu sagen hatte, auch wenn es mir weder helfen noch mich beruhigen würde… es würde mir, wenn überhaupt nur etwas Zeit zum Nachdenken geben… wenn überhaupt…
Etana stellte noch keine Fragen. Sie schien zu ahnen, dass ich noch ein wenig neben mir stand, und dass ich das mit ihr an einem ruhigen Ort, im Wald, besprechen wollte.
Mit halbwegs zügigen Schritten ging ich voran auf den Rand der Stadt zu.
Ich achtete nicht auf die Passanten, die an uns vorbeihasteten. Mein Blick streifte kein einziges Mal eines der Häuser, die sich wie graue Riesen gen Himmel erstreckten und nur noch einen schmalen Streifen der ebenso farblosen Wolken freigab. Mein Blick war die ganze Zeit über auf den Boden gerichtet. Zuerst auf die rötlich – grauen Pflastersteine der Fußgängerzone, dann auf den dunklen, beinahe schwarz wirkenden Asphalt.
Schließlich sah ich Moos und Flächten zu beiden Seiten. Wir waren aus der Stadt heraus, und damit bald im Wald. Ich hörte meine Schritte auf den Steinen einer Brücke hallen. Kaum war dieses dumpfe Geräusch verklungen hob ich den Blick. Ich stand nun genau vor den Bäumen. Ich trat noch einige Schritte in den Wald hinein, dann drehte ich mich zu Etana um, die mir die ganze Zeit über stumm gefolgt war.
Langezeit schwiegen wir beide, keiner wagte es die Stimme zu erheben. Bei mir lag es daran, dass sich ein riesiger Kloß in meinem Hals gebildet hatte, der sich nicht hinunterschlucken ließ, und weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte…
Schließlich, nach ewigen Augenblicken, der erdrückenden Stille, erhob Etana die Stimme, ihre beinahe bernsteinernen Augen waren dabei unbeirrbar auf mich gerichtet: „Was hat mich da gestern Nachmittag im Wald angegriffen?“
Sie wollte nicht erst lang und breit erklären, was sie sich dachte, sie wollte eine klare Antwort. Sofort.
Ich schüttelte nur den Kopf und richtete den Blick in die Ferne, halb hinein in den Wald und in Richtung der Berge und halb zur Stadt.
„Es ist… schwierig…“, setzte ich langsam an, ein unüberhörbares Zittern hatte sich in meine Stimme eingeschlichen und so sehr ich versuchte meine Nervosität zu überspielen, desto mehr scheiterte ich daran.
„Kannst du nicht einfach versuchen, es mir zu erklären? Vielleicht kann ich es ja begreifen…“, versuchte Etana mich zu ermutigen, wobei in ihrer Stimme ein drängender Unterton mitschwang. Ihr schien es wirklich am Herzen zu liegen, zu erfahren, wer oder was sie angegriffen hatte. Irgendetwas stimmte da nicht… Schnell verdrängte ich den Gedanken, noch bevor er da war.
Ich versicherte mich, dass ich ohne, dass meine Stimme brach und nicht mehr ansetzte sprechen konnte und begann langsam und mit beinahe Ehrfurcht in der Stimme: „Ich kann dir nicht sagen, was genau dich angefallen hat, aber… es war auf jeden Fall ein… magisches Wesen…“
Etanas Augen weiteten sich und sie starrte mich perplex an, um ihre Mundwinkel zuckte etwas, das ich nicht definieren konnte, aber sie wurden eindeutig nach unten gezogen.
„Ein… magisches Wesen…?“, wiederholte sie langsam, wobei sie jede Silbe klar betonte.
„Ja, ein Wesen, wie ich eines bin“, meinte ich. Ich hielt den Blick abgewandt und wollte sie auch gar nicht mehr ansehen. Was mochte sie jetzt wohl denken? Hielt sie mich für verrückt? Ich versuchte nicht zu viel davon an mich heran zu lassen, versuchte es einfach auszublenden.
„Beweise es“, sagte Etana nüchtern. Ihre Stimme war kein bisschen zittrig, sie klang klar und entschlossen.
Ich holte tief Luft. Wie sollte ich es ihr zeigen, wie sollte ich beweisen, was ich war. Ich entschied mich einfach dazu, ihr meine körperliche Kraft und meine Schnelligkeit zu offenbaren. Ich zögerte noch einen kurzen Augenblick, dann trieb ich meine Füße an. Sekundenbruchteile später stand ich nicht mehr vor Etana, sondern hinter ihr.
Das rothaarige Mädchen zuckte zu mir herum und starrte mich aus verblüfften, aber keineswegs verängstigt, oder überrascht an.
„Wow“, brachte sie schließlich heraus und ein beinahe vergnügter Zug schlich sich über ihre Mimik. „Und was bist du jetzt genau?“, fragte sie neugierig, während sie einen Schritt auf mich zukam und wie, als wollte sie sich vergewissern, dass ich wirklich da war die Hand nach mir ausstreckte.
„Ich bin eine Halbvampirin…“, entgegnete ich zaghaft und ließ meinen Blick zu ihrer Hand zucken, die sie nun wieder sinken gelassen hatte. Sie sah mich eindringlich an und schüttelte dann den Kopf, als wollte sie sich selbst für verrückt erklären oder sich aus einem Traum reißen. Dann fing sie sich wieder und ihre Züge wurden wieder so grimmig und gelassen wie sie sie sonst wahrte.
„Und du weißt wirklich nicht, was das gewesen sein könnte? Das Ding, das mich umbringen wollte?“, fragte Etana, wobei ihre Stimme bei „Das Ding“ einen abfälligen Unterton annahm, als wollte sie ausdrücken, das es wohl eine besonders mickrige Kreatur gewesen sein musste.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte langsam den Kopf. Ich hoffte, dass mir meine Verärgerung nicht anzusehen war.
„Nein… auch wenn es nur wenige Wesen gibt, die sich von menschlichem Blut ernähren…“, ich spürte, wie meine Stimme scharf, beinahe schrill wurde, da ich selbst zu jenen gehörte, die Blut trinken mussten, auch ,wenn nur in einem gewissen Maß.
„Und die wären?“, hackte Etana nach und versuchte meinen Blick einzufangen.
Doch in dem Moment, in dem ich ihr eine Antwort geben wollte stieg mir ein Geruch in die Nase, der mir auf eine Art und Weise vertraut war. Ich hatte ihn an gestern Früh schon einmal wahrgenommen, und ich konnte ihn immer noch nicht zuordnen. Ich wusste, zu welcher Person dieser Geruch gehörte, ich wusste nicht, was dieses Wesen war, dieser Junge…
Ich fühlte mich zum gestrigen Morgen zurückversetz. Ich spürte wie sich der Bann der eisblauen Augen wieder über mich zog, wie das Netz einer Spinne. Als wäre ich in Ketten gelegt, die ich nicht zerreißen wollte, nur, damit ich meinen Blick nie mehr von dieser Farbe, von angestrahltem Eis in dem nur ein paar winzige Blutstropfen verborgen waren, abwenden musste. Dieses durchdringende und dennoch nur zarte Blau und dieser verführerische, einladende und zugleich abschreckende Geruch waren das erste gewesen, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Dieser Geruch, der auf seine Weise wunderbar war und doch immer wieder ein Gefühl der Übelkeit in mir weckte.
Allarmiert fuhr ich in die Richtung herum, aus der ich die Fährte wahrnahm.
„Was ist los?“, fragte Etana, die ich für einige Momente völlig vergessen hatte. Sie sah sich ebenfalls misstrauisch um und warf mir aus dem Augenwinkel immer wieder fragende Blicke zu.
„Komm mit“, entgegnete ich zischend, dann jedoch viel mir ein, dass Etana ein Mensch war. „Oder nein, bleib besser hier“, korrigierte ich mich hastig und schickte mich an, loszulaufen.
Etana hielt mich am Arm fest und meinte mit fester Stimme, in der keinerlei Furcht, oder Zurückhaltung zu liegen schien: „Ich bleibe nicht hier, ich begleite dich natürlich.“ Ihr Tonfall ließ keinen Wiederspruch zu also zog ich sie mit mir, der leichten Spur des Geruchs hinterher.
Sie führte uns an das äußerste Randgebiet der Stadt und noch ein Stück hinein in den Wald, dort endete sie bei einem verfallenen Haus, bei dem schon beinahe das Dach einstürzte und sich an den Wänden schon tiefe Risse zogen.
Ich trat vor Tür, die nur halb mit den Angeln verbunden war und knarrend hin und her schwang, wenn ein Windstoß sie schüttelte.
Vor dem Eingang waren zwei bröckelnde Treppenstufen aus mausgrauem Beton in sich zusammengebrochen über die ich nun hinweg stieg und den abgedunkelten Raum betrat.
Im ersten Moment viel mein Blick aus dem Fenster, an dem sich gleichmäßig ein langer Sprung vom oberen Ende bis zum unteren zog. Ich machte noch ein paar Schritte in den verstaubten Vorraum hinein und sah mich mit zusammengekniffenen Augen um. Etana war dicht hinter mir geblieben, doch nun stapfte sie an mir vorbei und betrat den ersten Raum, das von dem Gang nur mit einem Türrahmen abgetrennt wurde, in dem nur noch die Scharniere hingen.
Ich verharrte noch einige Momente, mit dem Blick auf nichts Bestimmtes gerichtet, dann steckte auch ich den Kopf in das Zimmer hinein. Automatisch zuckten meine Augen zu Etana, die schreckensbleich dastand und an die Wand starrte, die ich von meiner Position im Türstock nicht sehen konnte. Doch auch etwas anderes lag in ihren Zügen, dass ich schemenhaft als Abscheu, oder gar Hass einordnen konnte.
„Du!“, zischte sie mit zusammengebissen Zähnen. Ihren Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, als würde sie jeden Moment laut schreien, oder in Tränen ausbrechen.
Ich blieb wo ich war, während die Geräusche an mein Ohr drangen, die mir signalisierten, dass jemand von den morschen Balken der Hütte aufstand, auch wenn dieser Jemand sich sehr leise und präzise bewegte, wie eine gefährliche Raubkatze auf der Pirsch.
Ich erwartete eine Antwort wie „Ja, ich…“, die mit Spott und Verachtung durchzogen war, doch stattdessen erklang eine vollkommen kalte Stimme, in der nicht der kleinste Ton lag: „Was wollt ihr hier?“
Etana gab keine Antwort, sondern funkelte den Fremden aus, in diesem Licht beinahe goldenen, Augen heraus an.
Die Stimme des Jungen hatte meine Aufmerksamkeit erregt und ich trat neben das rothaarige Mädchen. Was ich sah, hätte mich eigentlich in keiner Weise überraschen dürfen. Es hatte genug Vorzeichen dafür gegeben, die mir sagen hätten müssen, dass ich ihn hier antraf. Doch mein Gehirn schien es nicht kombiniert zu haben, auch wenn ich nichts anderes in diesem Gebäude wahrnahm.
Aber warum reagierte Etana so auf ihn? Es durfte gar nicht sein, dass sie ihn kannte… es sei denn, er war derjenige gewesen, der sie angegriffen hatte…
Auch, wenn es auf der Hand lag, und er, schon bei unserer ersten Begegnung, gewisse Gefahr ausgestrahlt hatte, der man, wenn man vernünftig war, besser aus dem Weg ging, auch dann wollte ich es nicht wahr haben, dass dieser Junge Blut trinken musste… dass er Etanas Blut trinken wollte…
Ich verscheuchte diese wirren Eingebungen. Ich kannte dieses Wesen doch gar nicht! Wie konnte ich da denken, dass er etwas nicht tun würde... Ich hatte noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt.
Ich lenkte meinen Blick und meine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Der Junge stand in einer gelassenen Haltung da, nahe der Wand. Es schien jedoch, als würde ihn eine unsichtbare Last nach unten ziehen, außerdem verbarg er einen seiner Arme hinter dem Rücken.
Ich ließ meine Augen langsam an ihm nach oben wandern, doch mir viel nichts Ungewöhnliches auf. Bei seinem Gesicht verharrte ich und studierte die kalte Maske, die seine Züge in eisige Schatten tauchte. Sie schien nach undurchdringlicher als am Morgen, noch lebloser, ich wagte nicht, es gar mit der Mine eines Toten zu vergleichen, doch genau so wirkte der Junge. Er sah aus als wandle er mit dem Tod, als würde dieser ihm seine Gefühle rauben.
Konzentrier dich!, ermahnte ich mich selbst und vermied es, dem Fremden in die Augen zu sehen, da ich fürchtete, wieder in dem durchdringenden Blau zu ertrinken.
Er hatte Etana und mich etwas gefragt und keine von uns gab eine Antwort. Etana sprach nicht, weil sie damit beschäftigt war, den Jungen wütend anzufunkeln. Ich hingegen war einfach gefangen von seiner natürlichen Wildheit, die jedoch von der Kälte und Gelassenheit abgedämpft wurde. Ihm sah man an, dass er kein Mensch war, dazu war er, selbst wenn er nur still dastand, viel zu elegant und seine ganze Haltung, seine Ausstrahlung war zu raubtierhaft, außerdem war er… atemberaubend… auch wenn ich nicht genau wusste, ob sich das auf sein Aussehen, oder auf sein Auftreten bezog…
„Ich scheine keine Antwort mehr zu bekommen…“, stellte er tonlos fest. Er stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt war und stand im nächsten Moment direkt vor mir und Etana.
Es war wieder eine dieser Situationen, in denen mir mein Herz vermutlich aus der Brust gesprungen wäre, wenn es noch schlangen würde.
Ich warf einen kurzen Seitenblick zu Etana. Ihre Wut schien verraucht und verborgener Bewunderung gewichen zu sein, trotzdem blieb sie genug sie selbst, um ihm eine bissige Entgegnung an den Kopf zu werfen: „Warum sollte ich mir das auch antun, mit jemandem wie dir zu sprechen?!“
Das tat sie doch gerade, auch wenn nicht freundlich. Ich erwartete schon beinahe, dass der Fremde ein spöttisches Lachen erklingen ließ, oder zumindest ein herablassendes Zucken um die Mundwinkel bekam, doch nichts von beidem Geschah. Der Junge schien nicht auf Spielchen aus zu sein.
„Möglicherweise wäre es höflich, wenn man etwas gefragt wird zu antworten... du warst doch diejenige, die auf gute Manieren bestanden hat…“, meinte er ungerührt und ließ seinen stechenden, eisblauen Blick für einen Moment zu Etana zucken, dann starrte er wieder ins Leere. Irgendwo hin und doch nirgendwo…
Etana schnaubte abfällig und bedachte den Fremden mit einem funkelnden Blick, der mir auf der Haut gebrannt hätte, doch ihn schien es wenig zu beeindrucken.
Mach irgendetwas!, schrie ich mir in Gedanken zu, doch das einzige was ich scheinbar tun konnte war herumzustehen und nichts zu tun…
Endlich schien ich meine Stimme zurückgewonnen zu haben.
„Wenn du schon von Höflichkeit sprichst, wie lautet dein Name?“, fragte ich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
Der Junge kniff die Augen zusammen, das war die erste Reaktion, die er bis jetzt gezeigt hatte und es jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.
„Warum sollte ich dir das verraten?“, meinte er, seine Stimme schien ein wenig zu beben. Der Fremde wandte mir den Blick zu, wieder mit der kalten Maske über den Zügen.
Ich ließ mich nicht entmutigen. Nächste Frage: „Wohnst du hier?“
Etana warf mir einen fragenden Seitenblick zu, der aber auch bedeuten konnte, dass ich den Mund halten sollte. Die Mimik des rothaarigen Mädchens war so schwer zu deuten…
„Nein“, meinte der Junge knapp.
„Und woher kommst du dann? Ich habe dich noch nie hier gesehen…“, hackte ich weiter nach, vermied es dabei jedoch immer noch ihm in die Augen zu sehen.
„Ich bin nur auf der Durchreise…“, nun war seine Stimme wieder vollkommen kalt.
„Wohin willst du? Hast du ein bestimmtes Ziel…?“
„Ich habe ein Ziel, aber das werde ich wohl nie erreichen…“, entgegnete der Junge, und ich glaubte versteckten Sarkasmus in seiner Stimme zu hören, was aber schwer zu beweisen war.
„Das klingt traurig…“, stellte ich fest und senkte für einen Moment den Blick, es kam mir beinahe so vor, als würde sich Mitleid für dieses fremde Wesen in mir ausbreiten. Es musste einen Grund geben, warum er so emotionslos war… „Reist du denn alleine?“
„Ja“, er hatte den Kopf wieder abgewandt, schien jedoch etwas Bestimmtes in die Augen zu fassen, auch wenn ich nicht feststellen konnte, was es war. Es schien nur er zu sehen.
„Hast du den keine Familie… oder irgendjemanden, der dich begleiten würde…?“, ich dachte nicht lange über das nach, was ich sagte, es glitt mir einfach so über die Lippen.
Der Junge zuckte wie ein geprügelter Hund zusammen und warf mir einen brennenden Blick zu, in dem nun Hass lag, doch dieses Gefühl war nicht auf mich gerichtet, sondern auf sich selbst, oder auf etwas anderes, etwas in seinen Gedanken…
Als Erwiderung schüttelte er nur resigniert den Kopf, immer noch mit abgewandtem Blick.
„Das kann ich mir vorstellen, ich würde mich auch von dir fernhalten“, Etanas Worte kamen wie Messerstiche, die dem Fremden jedoch nichts anzuhaben schienen, stattdessen glitten sie unbarmherzig in mich hinein und schnürten mir die Luft ab. Wie konnte sie nur so etwas sagen? Es mochte sein, dass der Junge sie beinahe umgebracht hätte, aber trotzdem… er hatte es nicht getan… warum auch immer… aber er hatte sie nicht verletzt, nicht eine kleine Wunde hatte sie davon getragen.
Der Fremde wandte uns den Blick wieder zu, seine Augen schienen beinahe gefroren, von noch größerer Kälte. Er versuchte mit aller Kraft uns nicht zu zeigen, was in seinem Inneren vor sich ging.
„Möglicherweise… aber wenn ich wollte, dass mich jemand begleitet, könnte ich denjenigen mit Leichtigkeit dazu zwingen…“, bei seinen letzten Worten wurde seine Stimme scharf und beinahe herausfordernd. Was noch davon verstärkt wurde, dass er mit leichtem Spott im Unterton hinzufügte: „Ich könnte dich dazu zwingen…“
Etana verzog keine Miene, ihr Blick blieb in grimmiger Abscheu auf den Fremden gerichtet und sie wich keinen Schritt von der Stelle.
„Dann tu es doch!“, schnappte sie mit eben derselben Herausforderung im Blick.
„Ich sagte ich könnte, wenn ich Begleitung bräuchte…“, konterte der Junge. Ich war enttäuscht, nicht ein kurzes, belustigtes Aufflackern in seinen Augen, nicht eine kurze Reaktion. Ich wusste nicht, warum ich unbedingt sehen wollte, wie sich seine kalte Maske löste, aber ich wusste, dass ich es wollte…
Etana schien es geradezu provozieren zu wollen, dass er ihr etwas tat.
Sie trat noch einen Schritt auf den Fremden zu und war nun nur noch einen nicht nennenswerten Abstand von ihm entfernt.
„Wenn du solche Macht besitzt, wie du behauptest, zwing mich dazu zu tun, was dir beliebt!“, es war wie eine Aufforderung, fast ein Befehl und ich konnte beinahe ein Drängen in Etanas Stimme hören.
Ich bewunderte sie für ihren Mut und ihre Entschlossenheit sich nicht von der Welt der Dunkelheit und der Magie einschüchtern zu lassen, aber sie hatte sich das falsche Wesen ausgesucht, das sagte mir mein Gefühl und das wurde bestätigt, als der Fremde seinen Blick hob und Etana direkt in die Augen sah.
Wiedersehen
Langsam schob ich die Tür zum Klassenzimmer auf. Ich war gerade noch pünktlich. Genau in dem Moment, als ich den Raum betrat ertönte das schrille Klingeln, das den Beginn des Nachmittagsunterrichts ankündigte. Ich war nun bereits den zweiten Tag hier an dieser Schule und ich hatte schon mit viele neue Gesichter kennen gelernt.
Der Werwolf war nicht noch einmal bei mir aufgetaucht. Ich war irgendwie verwundert darüber… aber es war mir nur Recht.
Schnell ließ ich meinen Blick umherschweifen. Der Lehrer war noch nicht da… generell kamen die Aufsichtspersonen immer mindestens fünf Minuten zu spät, keiner der Professoren war bis jetzt pünktlich gewesen, aber das störte mich wenig. Ich kam selbst meistens erst zu Stundenbeginn, da ich immer herumtrödelte, oder von einem neuen Bekannten aufgehalten wurde, der mich im Schulhaus aus heiterem Himmel ansprach. An dieser Akademie waren alle sehr freundlich, auch wenn ich mir bei manchen nicht sicher war, ob sie es ernst meinten oder nicht.
Ich erblickte Etana, die wieder am hinteren der beiden Fenster stand und in die grauen Straßen hinaus starrte. Wir hatten noch nicht viel Gelegenheit gehabt, uns zu unterhalten, da ich ständig von den anderen belagert wurde, weshalb das rothaarige Mädchen meist das Weite suchte, da sie zu viel Gesellschaft scheinbar nicht abkonnte.
Sie war eine Herausforderung für mich und meine gute Laune, aber sie kam mir sympathisch vor. Also querte ich das Klassenzimmer und stellte mich neben sie, aber mit dem Rücken zur Scheibe, an die Fensterbank.
„Na, wie sieht´s aus?“, fragte ich mit einem leichten Lächeln im Gesicht.
Etana wandte mir den Blick zu, sie schien bis jetzt mit den Gedanken wo anders gewesen zu sein.
„Es geht, aber ich habe keine Lust auf Physik…“, entgegnete sie, ihre Stimme klang grimmig, aber ich wusste, dass ihre Laune verhältnismäßig relativ gut war…
„Hm… es gibt Schlimmeres…“, setzte ich zum Smalltalk an, doch Etana winkte sofort ab, sie schien sich nicht gerne über die Schule zu unterhalten.
Ich wollte nicht locker lassen, und schon gar nicht aufgeben, also setzte ich einfach beim offensichtlichen an:„Du wirkst irgendwie abwesend, ist etwas passiert?“
„Ja… und nein…“, erwiderte sie und richtete ihren Blick für einen kurzen Moment wieder aus dem Fenster, gen Horizont, wo sich die grauen Wolken zu einer bedrohlichen Mauer auftürmten.
Ich wollte gerade nachhacken, was den jetzt passiert war, oder auch nicht… so eine Antwort hatte ich von einer Freundin schon einmal erhalten, doch das konnte ich nicht mit Etanas Art in Verbindung bringen… als die Tür sich öffnete und ein hoch gewachsener Mann eintrat. Sein grau – braunes Haar war bereits schütter und von weißlichen Strähnen durchzogen. Ein farblich gleicher Vollbart, der kurz gestutzt war verdeckte seine Oberlippe und verbarg sein ansonsten recht markantes Kinn. Seine Nase erinnerte mich an den Schnabel eines Habichts, so groß und krumm wie sie war.
Trotzdem, dass er bereits in die Jahre gekommen war, war seine Körperhaltung aufrecht und er hatte drahtige Arme und Beine.
Etana und ich begaben uns auf unsere Plätze, während der Professor sich dem Pult näherte.
„Jetzt hat dich deine Intuition im Stich gelassen…“, meinte Etana nüchtern, als sie sich auf ihren Stuhl sinken ließ.
Damit lag sie richtig… ich hatte nicht darauf geachtet, ob ich draußen die schlurfenden Schritte eines Erwachsenen hörte.
„Das ist möglich…“, entgegnete ich ebenso sachlich und schlug mein Heft auf, das ich noch schnell aus meiner Tasche genommen hatte, bevor ich sie auf den Boden fallen ließ.
Der Lehrer hatte sich ebenfalls bereits auf seinen Stuhl gesetzt und ließ seinen Blick über die vermerkte im Klassenbuch schweifen.
„Lucy Blackhood?“, fragte er mit monotoner Stimme und hob die Augen von der Seite, die er gerade noch studiert hatte.
Ich brauchte einen Moment, bis ich registrierte, dass ich damit gemeint war, da ich meistens Lu genannt, oder bei meinem magischen Namen gerufen wurde.
Ich hob den Kopf und richtete meine Aufmerksamkeit ganz auf den Physikprofessor.
„Ja?“, meldete ich mich mit einem höflichen Unterton in der Stimme.
„Sie sind neu hier… schön Sie kennen zu lernen.“, meinte er und wandte sich dann einem Zettel zu auf den er mit gekritzelten Notizen beschrieben hatte, von denen nicht genau zu sagen war, ob sie nun in Schreibschrift, oder Druckschrift waren.
Eigentlich hatte ich diesen Lehrer schon einmal gehabt, in Biologie, aber das schien er wohl vergessen zu haben… vielleicht erste Alterserscheinungen. Bei Menschen wusste man nie.
„Gleichfalls…“, murmelte ich.
Einige Momente lang verharrte der Lehrer noch reglos, dann legte er den Zettel auf der Seite des Klassenbuches ein, die er aufgeschlagen hatte.
Ich wandte den Blick von dem Professor ab und beugte mich zu Etana hinüber.
„Wie heißt der nochmal?“, fragte ich, da mir der Name des Lehrers entfallen war, obwohl wir ihn an diesem Vormittag bereits in Biologie gehabt hatten.
„Lawiet… aber frag mich nicht, nach seinem Vornamen…“, antwortete Etana.
„Ihr könnt eure Privatgespräche auch nach meiner Stunde führen, jetzt solltet ihr gebannt dem Stoff lauschen, Etana und Lucy“, ermahnte uns der Professor, dessen dunkelbraune Adleraugen auf uns gerichtet waren.
Etana und ich tauschten einen kurzen Blick aus und verdrehten beide die Augen. Ich wandte mich meinen Notizen zu und führte mit flinker Feder Mitschrift.
Doch mir wollte Etanas abwesender Gesichtsausdruck nicht aus dem Kopf. Irgendetwas war passiert, in der Zeit zwischen dem Vormittags- und dem Nachmittagsunterricht, oder vielleicht schon gestern… aber was?
Ich musste mich danach erkundigen, aber der Lehrer würde mich sicher wieder erwischen, wenn ich mit ihr sprach.
Also kramte ich einen Spiralblock aus meiner Tasche und riss unachtsam eine Seite heraus.
Ich nahm meinen Stift auf und schrieb mit kleinen, verschlungenen Buchstaben auf die erste Zeile:
Du hast mir immer noch nicht gesagt, was passiert ist, oder ob überhaupt etwas passiert ist. Also: Was ist los?
Dann schon ich Etana, die den Blick auf ihr Heft gerichtet hatte, aber keine nennenswerten Notizen machte, den Zettel hin.
Sie hob den Blick und ihre Augen zuckten kurz über meine geschriebenen Zeilen. Zweifel schlichen sich in meinen Hinterkopf, ob sie überhaupt antworten würde. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, eher nicht.
Doch sie nahm, gegen meine Erwartungen den Stift zur Hand und ließ ihn in unregelmäßigem Takt über das Blatt wandern.
Ich wandte mich, während sie schrieb, wieder der Tafel zu und dem Lehrer, der davor stand und uns den Stoff erklärte.
Ich begann nicht mehr ganz so säuberlich wie vorhin Notiz zu führen, doch ich hatte meinen ersten Satz noch nicht einmal fertig formuliert, als Etana mir schon den Zettel an die Hand schob. Ich zog ihn zu mir und legte ihn auf mein Heft, dann überflog ich die Zeile:
Ich bin gestern jemandem begegnet, weiter nichts. Es war etwas irritierend.
Etwas irritierend? Das hörte sich doch nach dem an, was ich vermutet hatte. Aber, ehrlich gesagt traute ich Etana das nicht zu… sie war nicht viel unter Menschen und von dieser Art Beziehung hielt sie sich bestimmt strikt fern…
Ich konnte es jedoch nicht lassen, meiner Vermutung nachzugehen:
Ein Junge?
Wieder schob ich den Zettel neben sie, behielt den Blick aber diesmal auf Etana gerichtet, da ich ihre erste Reaktion auf meine Anschuldigung sehen wollte.
Einen Moment lang starrte das rothaarige Mädchen den Zettel nur perplex an, dann sah sie zu mir.
Wenn Blicke töten könnten… dachte ich bei mir, als sie mir einen vernichtenden Blick zuwarf, mit dem sie mich eine ganze Zeit lang fixierte.
Also ging es wirklich um einen Jungen, oder sie reagierte über… es war beides möglich, auch wenn ich ihr letzteres eher zutraute.
Etana kritzelte wütend eine Antwort. So fest, wie sie den Stift auf das Papier drückte, würde sie wohl ein Loch in den Zettel reißen. Kaum war sie fertig hob sie den Blick wieder und bedachte mich erneut mit einem vor Aufregung blitzendem Blick.
Ja, ein Junge, aber nicht das was du denkst! Er hat mich angegriffen, und wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, er hätte mir beinahe die Zähne in den Hals geschlagen!
Mir wurde schlecht. War etwa ein Vampir, oder ähnliches hier unterwegs? Hatte was auch immer es gewesen war, versucht Etanas Blut zu trinken? Ich versuchte ruhig zu bleiben, doch das gelang mir nicht. Welche Schlüsse hatte Etana daraus gezogen? Hielt sie denjenigen einfach nur für einen Psychopathen, oder hatte sie Verdacht geschöpft?
Ich schluckte den Kloß hinunter, der mir die Atemwege versperrte und mich beinahe ins Keuchen kommen ließ und setzte zitternd den Stift aufs Papier, meine Schrift war durch das Beben meiner Hände kaum leserlich und ich hoffte Etana würde meine Nervosität nicht bemerken.
Ich biss mir auf die Unterlippe um mich zu beruhigen, dann presste ich die Zähne aufeinander und versuchte meine Hände unter Kontrolle zu bringen.
Das ist doch Blödsinn. Menschliche Zähne können die Haut und das Fleisch nicht durchschlagen, das musst du dir unter Schock eingebildet haben.
Ich hoffte, sie würde mir das glauben, auch wenn ich selbst nicht davon überzeugt war.
Ich schob ihr den Zettel zu und wandte meinen Blick sofort ab, ich wollte nicht sehen, wie sie reagierte. Ich wusste, dass ich sie damit vermutlich wütend gemacht hatte, da es beinahe so formuliert war, als würde ich sie als dumm bezeichnen.
Ich starrte auf die Tischplatte und hob den Kopf erst wieder an, als ich den Zettel an meinem Ellbogen spürte, ich zog ihn zu mir, wagte aber im ersten Moment nicht, darauf zu sehen.
Ich hatte wirklich beinahe Angst davor, mir anzusehen, wie sie meine Bemerkung auffasste.
Schließlich raffte ich mich zusammen und warf einen Blick auf die Zeilen.
Was weißt du darüber?
Genau das stand da… Was weißt du darüber? …Hatte ich mich verraten? Was hatte Etana zuvor schon geahnt? Erneut begannen meine Hände zu zittern und ich hatte Mühe damit mich dazu zu zwingen, die nächsten Zeilen auf das Blatt zu kritzeln:
Was soll ich worüber wissen? Ich kenne keinen Psychopathen, der Mädchen angreift.
Von dem Moment an, als ich ihr den Zettel zuschob konnte ich nicht mehr Mitschrift für den Unterricht führen, oder mich auf den Lehrer konzentrieren, der uns gerade einen ausführlichen Vortrag über die Schnelligkeit der Sonnenstrahlen zu halten schien. Ich glaubte auch, dass Etana den Rest ihrer Aufmerksamkeit, die sie dem Stoff schenkte, nun auf ihre eigenen Gedanken richtete.
Ich saß in der Zwickmühle. Ich konnte ihr nichts sagen. Das wäre mein und ihr Todesurteil, doch ich würde mich auch nicht darum herumreden können, dazu war Etana schon viel zu nah an der Wahrheit dran. Sie dachte zwar vermutlich nach wie vor, dass dieser Fremde, der sie angegriffen hatte ein Mensch war, aber sie hatte bemerkt, wie ich darauf reagiert hatte, und schien registriert zu haben, dass etwas nicht stimmte. Also wartete ich angespannt darauf, was sie schrieb. Wäre ich ein Mensch gewesen, hätte mein Herz vermutlich wie wild zu pochen angefangen, mein Puls hätte mir in den Ohren gehämmert und mir wäre der Schweiß auf die Stirn getreten. So zeigte nur das heftige Zittern meiner Hände an, dass ich unter unerträglicher Anspannung stand und, dass meine Muskeln sich immer stärker verkrampften, bis ich vermutlich steif wie ein Eisblock dasaß.
Endlich schon mir Etana wieder den Zettel hin. Ihre Mine war verschlossen, ich konnte nicht erkennen welche Gedanken ihr durch den Kopf huschten, da weder um ihre Lippen noch um ihre Augen Andeutungen ihrer Gefühle tanzten.
Das meinte ich nicht. Wieso hast du so seltsam reagiert, als ich geschrieben habe, dass der Kerl mir beinahe die Zähne in den Hals gebohrt hätte, du schienst, als würdest du ahnen, was los ist. Und ich denke ich habe ein recht zu erfahren was mich da angegriffen hat.
WAS mich da angegriffen hat… ich konnte es nicht fassen, dass sie so schnell dahinter gekommen zu sein schien. Ich kritzelte lediglich ein:
Später
Quer über das Blatt und wandte mich wieder dem Unterricht zu, dem ich jedoch in keiner Weise folgen konnte. Ich würde Etana alles sagen müssen, was hatte ich für eine Wahl, die akzeptabel war. Es kam auf keinen Fall in Frage, dass ich sie töte würde, das war ausgeschlossen. Ich würde sie auch nicht zu den höchsten Vampiren bringen, damit diese ihre Erinnerungen löschten, denn wenn ich das tat konnte ich nicht garantieren, dass sie dort auch wieder lebend, und vor allem als Mensch wieder herauskam…
Genauso wenig konnte ich ihr gar nichts sagen, denn dann würde ich riskieren, dass sie auf eigene Faust weiter nach Antworten suchte und dabei womöglich jemand anderen auch noch einweihte.
Schließlich erscholl das schrille Klingeln zum Stundenende. Ich hätte mir gewünscht, dass es noch länger gedauert hätte… je mehr Zeit ich zum nachdenken hatte, desto besser. Vielleicht würde mir ja noch eine Lösung einfallen, auch wenn ich nicht sehr zuversichtlich war.
In Schneckentempo räumte ich meinen Tisch ab und verstaute mein Heft und die Stifte in meiner Tasche. Als ich den Reißverschluss zu zog, hörte ich neben mir ein erleichtertes Ausatmen. Etana wartete immer noch. Was hatte ich mir auch anderes erwartet? Hatte ich vielleicht gedacht, dass sie gegangen wäre, als hätte sie vergessen, was wir auf den Zettel geschrieben hatten… nicht einmal ein Mensch vergaß solche Dinge so schnell. In diesem Fall wäre es mir sogar Recht gewesen.
Vielleicht bekam ich ja durch irgendetwas noch Zeit. Eine Verzögerung, sodass ich es hinausschieben konnte…
Ich erhob mich und hängte mir die Tasche über die Schulter. Der Raum war bereits vollkommen leer, nur ich und Etana waren noch hier. Alle Stühle waren auf die Tische gestellt und am Boden lagen einzelne Papierkügelchen und Zettel herum.
Als ich die Blätter entdeckte, die beschrieben auf dem Boden lagen, musste ich unweigerlich an die Seite aus meinem Notizblock denken, die ich mir in die Hosentasche gestopft hatte.
Langsam wandte ich meinen Blick Etana zu, die mich mit ungezügelter Ungeduld anschaute und eine auffordernde Kopfbewegung in Richtung Tür machte.
Ich spürte, wie meine, sonst nach oben zeigenden, Mundwinkel nach unten abrutschten und mein Gesicht sich zu einer Maske verzog.
Etana ging voran und verließ vor mir den Raum. Ich schlenderte langsam hinterher und blieb auf Abstand zu ihr. Ich bemerkte nur verschwommen, wie wir zu den Schließfächern kamen. Die einzelnen Nummern und das Gelb der Schränke verschmolzen, trotzdem konnte ich meinen Spint ohne Probleme finden. Ich schloss ihn mit immer noch zitternden Händen auf und starrte für einen Moment einfach nur hinein.
Geistesabwesend zog ich mir Schuhe und Mantel an dann schwankte ich wie unter Trance nach oben, wo Etana, die natürlich schneller gewesen war als ich, schon auf mich wartete.
Jetzt gab es keinen Aufschub mehr. Es stand unweigerlich bevor… Ich musste ihr alles erklären, alles was ich wusste. Aber zuerst würde ich sie fragen, was sie dachte, was sie darüber für Vermutungen anstellte… vielleicht war eine ihrer Theorien ganz normal und ich konnte darauf aufbauen.
Das glaubst du wohl selbst nicht!, schalt ich mich und schüttelte den Gedanken ab. Ich würde mir anhören, was sie zu sagen hatte, auch wenn es mir weder helfen noch mich beruhigen würde… es würde mir, wenn überhaupt nur etwas Zeit zum Nachdenken geben… wenn überhaupt…
Etana stellte noch keine Fragen. Sie schien zu ahnen, dass ich noch ein wenig neben mir stand, und dass ich das mit ihr an einem ruhigen Ort, im Wald, besprechen wollte.
Mit halbwegs zügigen Schritten ging ich voran auf den Rand der Stadt zu.
Ich achtete nicht auf die Passanten, die an uns vorbeihasteten. Mein Blick streifte kein einziges Mal eines der Häuser, die sich wie graue Riesen gen Himmel erstreckten und nur noch einen schmalen Streifen der ebenso farblosen Wolken freigab. Mein Blick war die ganze Zeit über auf den Boden gerichtet. Zuerst auf die rötlich – grauen Pflastersteine der Fußgängerzone, dann auf den dunklen, beinahe schwarz wirkenden Asphalt.
Schließlich sah ich Moos und Flächten zu beiden Seiten. Wir waren aus der Stadt heraus, und damit bald im Wald. Ich hörte meine Schritte auf den Steinen einer Brücke hallen. Kaum war dieses dumpfe Geräusch verklungen hob ich den Blick. Ich stand nun genau vor den Bäumen. Ich trat noch einige Schritte in den Wald hinein, dann drehte ich mich zu Etana um, die mir die ganze Zeit über stumm gefolgt war.
Langezeit schwiegen wir beide, keiner wagte es die Stimme zu erheben. Bei mir lag es daran, dass sich ein riesiger Kloß in meinem Hals gebildet hatte, der sich nicht hinunterschlucken ließ, und weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte…
Schließlich, nach ewigen Augenblicken, der erdrückenden Stille, erhob Etana die Stimme, ihre beinahe bernsteinernen Augen waren dabei unbeirrbar auf mich gerichtet: „Was hat mich da gestern Nachmittag im Wald angegriffen?“
Sie wollte nicht erst lang und breit erklären, was sie sich dachte, sie wollte eine klare Antwort. Sofort.
Ich schüttelte nur den Kopf und richtete den Blick in die Ferne, halb hinein in den Wald und in Richtung der Berge und halb zur Stadt.
„Es ist… schwierig…“, setzte ich langsam an, ein unüberhörbares Zittern hatte sich in meine Stimme eingeschlichen und so sehr ich versuchte meine Nervosität zu überspielen, desto mehr scheiterte ich daran.
„Kannst du nicht einfach versuchen, es mir zu erklären? Vielleicht kann ich es ja begreifen…“, versuchte Etana mich zu ermutigen, wobei in ihrer Stimme ein drängender Unterton mitschwang. Ihr schien es wirklich am Herzen zu liegen, zu erfahren, wer oder was sie angegriffen hatte. Irgendetwas stimmte da nicht… Schnell verdrängte ich den Gedanken, noch bevor er da war.
Ich versicherte mich, dass ich ohne, dass meine Stimme brach und nicht mehr ansetzte sprechen konnte und begann langsam und mit beinahe Ehrfurcht in der Stimme: „Ich kann dir nicht sagen, was genau dich angefallen hat, aber… es war auf jeden Fall ein… magisches Wesen…“
Etanas Augen weiteten sich und sie starrte mich perplex an, um ihre Mundwinkel zuckte etwas, das ich nicht definieren konnte, aber sie wurden eindeutig nach unten gezogen.
„Ein… magisches Wesen…?“, wiederholte sie langsam, wobei sie jede Silbe klar betonte.
„Ja, ein Wesen, wie ich eines bin“, meinte ich. Ich hielt den Blick abgewandt und wollte sie auch gar nicht mehr ansehen. Was mochte sie jetzt wohl denken? Hielt sie mich für verrückt? Ich versuchte nicht zu viel davon an mich heran zu lassen, versuchte es einfach auszublenden.
„Beweise es“, sagte Etana nüchtern. Ihre Stimme war kein bisschen zittrig, sie klang klar und entschlossen.
Ich holte tief Luft. Wie sollte ich es ihr zeigen, wie sollte ich beweisen, was ich war. Ich entschied mich einfach dazu, ihr meine körperliche Kraft und meine Schnelligkeit zu offenbaren. Ich zögerte noch einen kurzen Augenblick, dann trieb ich meine Füße an. Sekundenbruchteile später stand ich nicht mehr vor Etana, sondern hinter ihr.
Das rothaarige Mädchen zuckte zu mir herum und starrte mich aus verblüfften, aber keineswegs verängstigt, oder überrascht an.
„Wow“, brachte sie schließlich heraus und ein beinahe vergnügter Zug schlich sich über ihre Mimik. „Und was bist du jetzt genau?“, fragte sie neugierig, während sie einen Schritt auf mich zukam und wie, als wollte sie sich vergewissern, dass ich wirklich da war die Hand nach mir ausstreckte.
„Ich bin eine Halbvampirin…“, entgegnete ich zaghaft und ließ meinen Blick zu ihrer Hand zucken, die sie nun wieder sinken gelassen hatte. Sie sah mich eindringlich an und schüttelte dann den Kopf, als wollte sie sich selbst für verrückt erklären oder sich aus einem Traum reißen. Dann fing sie sich wieder und ihre Züge wurden wieder so grimmig und gelassen wie sie sie sonst wahrte.
„Und du weißt wirklich nicht, was das gewesen sein könnte? Das Ding, das mich umbringen wollte?“, fragte Etana, wobei ihre Stimme bei „Das Ding“ einen abfälligen Unterton annahm, als wollte sie ausdrücken, das es wohl eine besonders mickrige Kreatur gewesen sein musste.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte langsam den Kopf. Ich hoffte, dass mir meine Verärgerung nicht anzusehen war.
„Nein… auch wenn es nur wenige Wesen gibt, die sich von menschlichem Blut ernähren…“, ich spürte, wie meine Stimme scharf, beinahe schrill wurde, da ich selbst zu jenen gehörte, die Blut trinken mussten, auch ,wenn nur in einem gewissen Maß.
„Und die wären?“, hackte Etana nach und versuchte meinen Blick einzufangen.
Doch in dem Moment, in dem ich ihr eine Antwort geben wollte stieg mir ein Geruch in die Nase, der mir auf eine Art und Weise vertraut war. Ich hatte ihn an gestern Früh schon einmal wahrgenommen, und ich konnte ihn immer noch nicht zuordnen. Ich wusste, zu welcher Person dieser Geruch gehörte, ich wusste nicht, was dieses Wesen war, dieser Junge…
Ich fühlte mich zum gestrigen Morgen zurückversetz. Ich spürte wie sich der Bann der eisblauen Augen wieder über mich zog, wie das Netz einer Spinne. Als wäre ich in Ketten gelegt, die ich nicht zerreißen wollte, nur, damit ich meinen Blick nie mehr von dieser Farbe, von angestrahltem Eis in dem nur ein paar winzige Blutstropfen verborgen waren, abwenden musste. Dieses durchdringende und dennoch nur zarte Blau und dieser verführerische, einladende und zugleich abschreckende Geruch waren das erste gewesen, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Dieser Geruch, der auf seine Weise wunderbar war und doch immer wieder ein Gefühl der Übelkeit in mir weckte.
Allarmiert fuhr ich in die Richtung herum, aus der ich die Fährte wahrnahm.
„Was ist los?“, fragte Etana, die ich für einige Momente völlig vergessen hatte. Sie sah sich ebenfalls misstrauisch um und warf mir aus dem Augenwinkel immer wieder fragende Blicke zu.
„Komm mit“, entgegnete ich zischend, dann jedoch viel mir ein, dass Etana ein Mensch war. „Oder nein, bleib besser hier“, korrigierte ich mich hastig und schickte mich an, loszulaufen.
Etana hielt mich am Arm fest und meinte mit fester Stimme, in der keinerlei Furcht, oder Zurückhaltung zu liegen schien: „Ich bleibe nicht hier, ich begleite dich natürlich.“ Ihr Tonfall ließ keinen Wiederspruch zu also zog ich sie mit mir, der leichten Spur des Geruchs hinterher.
Sie führte uns an das äußerste Randgebiet der Stadt und noch ein Stück hinein in den Wald, dort endete sie bei einem verfallenen Haus, bei dem schon beinahe das Dach einstürzte und sich an den Wänden schon tiefe Risse zogen.
Ich trat vor Tür, die nur halb mit den Angeln verbunden war und knarrend hin und her schwang, wenn ein Windstoß sie schüttelte.
Vor dem Eingang waren zwei bröckelnde Treppenstufen aus mausgrauem Beton in sich zusammengebrochen über die ich nun hinweg stieg und den abgedunkelten Raum betrat.
Im ersten Moment viel mein Blick aus dem Fenster, an dem sich gleichmäßig ein langer Sprung vom oberen Ende bis zum unteren zog. Ich machte noch ein paar Schritte in den verstaubten Vorraum hinein und sah mich mit zusammengekniffenen Augen um. Etana war dicht hinter mir geblieben, doch nun stapfte sie an mir vorbei und betrat den ersten Raum, das von dem Gang nur mit einem Türrahmen abgetrennt wurde, in dem nur noch die Scharniere hingen.
Ich verharrte noch einige Momente, mit dem Blick auf nichts Bestimmtes gerichtet, dann steckte auch ich den Kopf in das Zimmer hinein. Automatisch zuckten meine Augen zu Etana, die schreckensbleich dastand und an die Wand starrte, die ich von meiner Position im Türstock nicht sehen konnte. Doch auch etwas anderes lag in ihren Zügen, dass ich schemenhaft als Abscheu, oder gar Hass einordnen konnte.
„Du!“, zischte sie mit zusammengebissen Zähnen. Ihren Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, als würde sie jeden Moment laut schreien, oder in Tränen ausbrechen.
Ich blieb wo ich war, während die Geräusche an mein Ohr drangen, die mir signalisierten, dass jemand von den morschen Balken der Hütte aufstand, auch wenn dieser Jemand sich sehr leise und präzise bewegte, wie eine gefährliche Raubkatze auf der Pirsch.
Ich erwartete eine Antwort wie „Ja, ich…“, die mit Spott und Verachtung durchzogen war, doch stattdessen erklang eine vollkommen kalte Stimme, in der nicht der kleinste Ton lag: „Was wollt ihr hier?“
Etana gab keine Antwort, sondern funkelte den Fremden aus, in diesem Licht beinahe goldenen, Augen heraus an.
Die Stimme des Jungen hatte meine Aufmerksamkeit erregt und ich trat neben das rothaarige Mädchen. Was ich sah, hätte mich eigentlich in keiner Weise überraschen dürfen. Es hatte genug Vorzeichen dafür gegeben, die mir sagen hätten müssen, dass ich ihn hier antraf. Doch mein Gehirn schien es nicht kombiniert zu haben, auch wenn ich nichts anderes in diesem Gebäude wahrnahm.
Aber warum reagierte Etana so auf ihn? Es durfte gar nicht sein, dass sie ihn kannte… es sei denn, er war derjenige gewesen, der sie angegriffen hatte…
Auch, wenn es auf der Hand lag, und er, schon bei unserer ersten Begegnung, gewisse Gefahr ausgestrahlt hatte, der man, wenn man vernünftig war, besser aus dem Weg ging, auch dann wollte ich es nicht wahr haben, dass dieser Junge Blut trinken musste… dass er Etanas Blut trinken wollte…
Ich verscheuchte diese wirren Eingebungen. Ich kannte dieses Wesen doch gar nicht! Wie konnte ich da denken, dass er etwas nicht tun würde... Ich hatte noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt.
Ich lenkte meinen Blick und meine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Der Junge stand in einer gelassenen Haltung da, nahe der Wand. Es schien jedoch, als würde ihn eine unsichtbare Last nach unten ziehen, außerdem verbarg er einen seiner Arme hinter dem Rücken.
Ich ließ meine Augen langsam an ihm nach oben wandern, doch mir viel nichts Ungewöhnliches auf. Bei seinem Gesicht verharrte ich und studierte die kalte Maske, die seine Züge in eisige Schatten tauchte. Sie schien nach undurchdringlicher als am Morgen, noch lebloser, ich wagte nicht, es gar mit der Mine eines Toten zu vergleichen, doch genau so wirkte der Junge. Er sah aus als wandle er mit dem Tod, als würde dieser ihm seine Gefühle rauben.
Konzentrier dich!, ermahnte ich mich selbst und vermied es, dem Fremden in die Augen zu sehen, da ich fürchtete, wieder in dem durchdringenden Blau zu ertrinken.
Er hatte Etana und mich etwas gefragt und keine von uns gab eine Antwort. Etana sprach nicht, weil sie damit beschäftigt war, den Jungen wütend anzufunkeln. Ich hingegen war einfach gefangen von seiner natürlichen Wildheit, die jedoch von der Kälte und Gelassenheit abgedämpft wurde. Ihm sah man an, dass er kein Mensch war, dazu war er, selbst wenn er nur still dastand, viel zu elegant und seine ganze Haltung, seine Ausstrahlung war zu raubtierhaft, außerdem war er… atemberaubend… auch wenn ich nicht genau wusste, ob sich das auf sein Aussehen, oder auf sein Auftreten bezog…
„Ich scheine keine Antwort mehr zu bekommen…“, stellte er tonlos fest. Er stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt war und stand im nächsten Moment direkt vor mir und Etana.
Es war wieder eine dieser Situationen, in denen mir mein Herz vermutlich aus der Brust gesprungen wäre, wenn es noch schlangen würde.
Ich warf einen kurzen Seitenblick zu Etana. Ihre Wut schien verraucht und verborgener Bewunderung gewichen zu sein, trotzdem blieb sie genug sie selbst, um ihm eine bissige Entgegnung an den Kopf zu werfen: „Warum sollte ich mir das auch antun, mit jemandem wie dir zu sprechen?!“
Das tat sie doch gerade, auch wenn nicht freundlich. Ich erwartete schon beinahe, dass der Fremde ein spöttisches Lachen erklingen ließ, oder zumindest ein herablassendes Zucken um die Mundwinkel bekam, doch nichts von beidem Geschah. Der Junge schien nicht auf Spielchen aus zu sein.
„Möglicherweise wäre es höflich, wenn man etwas gefragt wird zu antworten... du warst doch diejenige, die auf gute Manieren bestanden hat…“, meinte er ungerührt und ließ seinen stechenden, eisblauen Blick für einen Moment zu Etana zucken, dann starrte er wieder ins Leere. Irgendwo hin und doch nirgendwo…
Etana schnaubte abfällig und bedachte den Fremden mit einem funkelnden Blick, der mir auf der Haut gebrannt hätte, doch ihn schien es wenig zu beeindrucken.
Mach irgendetwas!, schrie ich mir in Gedanken zu, doch das einzige was ich scheinbar tun konnte war herumzustehen und nichts zu tun…
Endlich schien ich meine Stimme zurückgewonnen zu haben.
„Wenn du schon von Höflichkeit sprichst, wie lautet dein Name?“, fragte ich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
Der Junge kniff die Augen zusammen, das war die erste Reaktion, die er bis jetzt gezeigt hatte und es jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.
„Warum sollte ich dir das verraten?“, meinte er, seine Stimme schien ein wenig zu beben. Der Fremde wandte mir den Blick zu, wieder mit der kalten Maske über den Zügen.
Ich ließ mich nicht entmutigen. Nächste Frage: „Wohnst du hier?“
Etana warf mir einen fragenden Seitenblick zu, der aber auch bedeuten konnte, dass ich den Mund halten sollte. Die Mimik des rothaarigen Mädchens war so schwer zu deuten…
„Nein“, meinte der Junge knapp.
„Und woher kommst du dann? Ich habe dich noch nie hier gesehen…“, hackte ich weiter nach, vermied es dabei jedoch immer noch ihm in die Augen zu sehen.
„Ich bin nur auf der Durchreise…“, nun war seine Stimme wieder vollkommen kalt.
„Wohin willst du? Hast du ein bestimmtes Ziel…?“
„Ich habe ein Ziel, aber das werde ich wohl nie erreichen…“, entgegnete der Junge, und ich glaubte versteckten Sarkasmus in seiner Stimme zu hören, was aber schwer zu beweisen war.
„Das klingt traurig…“, stellte ich fest und senkte für einen Moment den Blick, es kam mir beinahe so vor, als würde sich Mitleid für dieses fremde Wesen in mir ausbreiten. Es musste einen Grund geben, warum er so emotionslos war… „Reist du denn alleine?“
„Ja“, er hatte den Kopf wieder abgewandt, schien jedoch etwas Bestimmtes in die Augen zu fassen, auch wenn ich nicht feststellen konnte, was es war. Es schien nur er zu sehen.
„Hast du den keine Familie… oder irgendjemanden, der dich begleiten würde…?“, ich dachte nicht lange über das nach, was ich sagte, es glitt mir einfach so über die Lippen.
Der Junge zuckte wie ein geprügelter Hund zusammen und warf mir einen brennenden Blick zu, in dem nun Hass lag, doch dieses Gefühl war nicht auf mich gerichtet, sondern auf sich selbst, oder auf etwas anderes, etwas in seinen Gedanken…
Als Erwiderung schüttelte er nur resigniert den Kopf, immer noch mit abgewandtem Blick.
„Das kann ich mir vorstellen, ich würde mich auch von dir fernhalten“, Etanas Worte kamen wie Messerstiche, die dem Fremden jedoch nichts anzuhaben schienen, stattdessen glitten sie unbarmherzig in mich hinein und schnürten mir die Luft ab. Wie konnte sie nur so etwas sagen? Es mochte sein, dass der Junge sie beinahe umgebracht hätte, aber trotzdem… er hatte es nicht getan… warum auch immer… aber er hatte sie nicht verletzt, nicht eine kleine Wunde hatte sie davon getragen.
Der Fremde wandte uns den Blick wieder zu, seine Augen schienen beinahe gefroren, von noch größerer Kälte. Er versuchte mit aller Kraft uns nicht zu zeigen, was in seinem Inneren vor sich ging.
„Möglicherweise… aber wenn ich wollte, dass mich jemand begleitet, könnte ich denjenigen mit Leichtigkeit dazu zwingen…“, bei seinen letzten Worten wurde seine Stimme scharf und beinahe herausfordernd. Was noch davon verstärkt wurde, dass er mit leichtem Spott im Unterton hinzufügte: „Ich könnte dich dazu zwingen…“
Etana verzog keine Miene, ihr Blick blieb in grimmiger Abscheu auf den Fremden gerichtet und sie wich keinen Schritt von der Stelle.
„Dann tu es doch!“, schnappte sie mit eben derselben Herausforderung im Blick.
„Ich sagte ich könnte, wenn ich Begleitung bräuchte…“, konterte der Junge. Ich war enttäuscht, nicht ein kurzes, belustigtes Aufflackern in seinen Augen, nicht eine kurze Reaktion. Ich wusste nicht, warum ich unbedingt sehen wollte, wie sich seine kalte Maske löste, aber ich wusste, dass ich es wollte…
Etana schien es geradezu provozieren zu wollen, dass er ihr etwas tat.
Sie trat noch einen Schritt auf den Fremden zu und war nun nur noch einen nicht nennenswerten Abstand von ihm entfernt.
„Wenn du solche Macht besitzt, wie du behauptest, zwing mich dazu zu tun, was dir beliebt!“, es war wie eine Aufforderung, fast ein Befehl und ich konnte beinahe ein Drängen in Etanas Stimme hören.
Ich bewunderte sie für ihren Mut und ihre Entschlossenheit sich nicht von der Welt der Dunkelheit und der Magie einschüchtern zu lassen, aber sie hatte sich das falsche Wesen ausgesucht, das sagte mir mein Gefühl und das wurde bestätigt, als der Fremde seinen Blick hob und Etana direkt in die Augen sah.
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